Erinnerung Larissa Zakrewska und ihr Mann lebten neben dem Kraftwerk, als es explodierte. Jedes Jahr im April werden sie unruhig
: Die Geschäfte waren voll mit Wodka

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Aus Kiew Bernhard Clasen

Ein paar Stunden nachdem der Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl explodierte, sammelte der siebenjährige Timofej Sauerampfer. Es war heiß an diesem Samstagvormittag, sagt Larissa Zakrewska, die Mutter. Sie stand am Fenster und sah ihrem Sohn zu. Mit dem Sauerampfer wollte sie einen grünen Borschtsch kochen.

Timofej hielt stolz den Sauerampfer hoch, erinnert sie sich, als fünf Meter hinter ihm ein Lastwagen im Schritttempo vorbeifuhr und Wasser auf die Straße sprühte. Der Mann am Steuer trug einen Schutzanzug und eine Atemmaske. Larissa Zakrewska hatte gehört, dass es ein Unglück am Kraftwerk gegeben hatte. Als sie den Mann mit der Maske sah, bekam sie Angst.

„Der 26. April 1986 war ein herrlicher Tag“, erzählt sie dreißig Jahre später in ihrer Wohnung in Kiew. „Plötzlich waren die Geschäfte voller Gemüse und Wodka.“ Das war die erste Maßnahme nach dem Reaktorunfall, sagt Alexander Ljabach, ihr Mann. Viel Wodka bereitstellen. Die Bevölkerung sei zuerst nicht informiert worden. Er und seine Frau merkten trotzdem, dass etwas nicht stimmte: Wer mit seinem Auto die Stadt verlassen wollte, wurde von der Miliz daran gehindert.

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Am Abend dann wurden die Menschen in Prypjat, wo auch Larissa Zakrewska und Alexander Ljabach wohnten, über den Unfall informiert. Prypjat liegt vier Kilometer vom Reaktor entfernt und war in den siebziger Jahren als Arbeitersiedlung gegründet worden. Auch Alexander Ljabach arbeitete im Kraftwerk. Er war Ingenieur.

Am Abend des 26. April 1986 sahen die Menschen von Prypjat am Horizont das Grafit im Reaktor glühen wie einen Sonnenuntergang.

Als Alexander Ljabach am Sonntagmorgen seine Frau, die zwei Wochen alte Tochter Olga und den Sohn Timofej in den Zug setzte, begegnete ihnen ihre Nachbarin im Treppenhaus, eine Putzfrau auf der Sanitätsstation des Kraftwerkes. Der gesamte Gang auf der Station sei voller halbnackter Männer mit feuerroten Körpern gewesen, erzählte sie. Ihre Haut habe sich abgeschält, wie Betrunkene seien sie gewankt. Der Boden des Gangs sei „knöcheltief“ mit Erbrochenem bedeckt gewesen.

Alexander Ljabach blieb alleine zurück. Er musste die Löschhubschrauber betreuen. Die Stadt war fast ausgestorben, nur in wenigen Wohnungen schien nachts Licht.

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Als er am 4. Mai schließlich zu seiner Familie fuhr, die in der Nähe von Kiew bei Verwandten untergekommen war, war sein Körper ebenfalls feuerrot.

Noch heute sprechen Alexander Ljabach und Larissa Zakrewska vom 26. 4. 1986, als sei das alles gestern gewesen. Sie haben Glück gehabt, sie leben noch und sind gesund. Wenige Wochen nach dem Unfall erhielten sie eine geräumige 3-Zimmer Wohnung in Kiew. In ihrem Hochhaus leben über tausend Menschen, viele stammen aus Prypjat.

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Sie versuche, den 26. April aus ihrem Gedächtnis zu löschen, sagt Larissa Zakrewska. Doch im April erfülle sie jedes Jahr wieder eine große Unruhe. Sie denke dann an die vielen Freunde, die gestorben sind oder krank wurden. Und sie hat Angst um ihre Kinder und Enkelkinder: Olga, die am Tag des Unfalls zwei Wochen alt war, ist gerade im neunten Monat schwanger.

Alexander steht rauchend am Balkon. In der Hand hält er seine Medaille für den heldenhaften Einsatz in Tschernobyl. Inzwischen ist er Rentner. 200 Euro bekommt er im Monat.

Er hat seine eigene Theorie, warum er nicht krank geworden ist. Ein Ballon, der voll aufgeblasen ist, platzt schnell, sagt er. Der Wodka dagegen hilft ihm beim Entspannen. Seine Frau verdreht die Augen. Alexander Ljabach lacht.