: Leiden an der Abwesenheit
THEATER Das Schauspiel Hannover versucht sich an einer Adaption der „Brüder Karamasow“. Dabei wird der Mega-Roman nicht auf wesentliche, gut greifbare Stränge reduziert: Das Publikum erwartet ein strapazierend langer, aber auch gelungener Abend
von Alexander Kohlmann
Wird in Deutschland Dostojewskij am Theater inszeniert, gibt es dafür – in der Tendenz – zwei Vorgehensweisen: Die Einen kürzen die gewaltigen, vielhundertseitigen Vorlagen klug auf einen oder mehrere Aspekte ein und bringen klinisch-reine Inszenierungen auf die Bühne, die ein mehr oder weniger gelungenes Schlaglicht auf Einzel-Aspekte werfen: schöne Bilder, handliche Spieldauer. Die Anderen setzen sich und ihr Ensemble theorie- und geistesgeschichtlichem Wahnsinn aus, wühlen sich noch in der Premiere durch den Text, versuchen gar nicht erst, der Mehrdimensionalität und dem Gigantismus der Vorlage mit Fokussierungen zu Leibe zu rücken: Stattdessen erklären sie das zwingende Scheitern jeder Theateradaption zum Programm.
„Die Brüder Karamasow“, wie sie am vergangenen Samstag in Hannover Premiere hatten, zählen eindeutig zur zweiten Kategorie: Unter der Regie von Martin Laberenz ist ein strapaziöses Kunstwerk entstanden, eine mehr als fünfstündige Performance, die den Zuschauer noch lange nach Mitternacht traktiert – mit der immer neu aufflammenden Verzweiflung über die Abwesenheit Gottes, mit geistesgeschichtlichen Theorien auch, die alle nichts nutzen: Ob da jemand ist, wir wissen es schlicht nicht.
Dunkles, hölzernes Kirchengestühl ragt am linken Rand bis weit in den Zuschauerraum hinein. Rechts steht ein riesiges, schwarzes Kreuz mit einer Jesus-Figur, an dessen Sockel ein lachender Totenkopf lauert. Rote Kirchen-Kerzen flackern. Eine Gaze mit einem opulenten Heiligenbild trübt den Blick auf die Bühne – dahinter leuchtet es verführerisch. Es ist eine Welt, in der Menschen wie durch die Gänge eines riesigen Bergwerkes irren und verzweifelt nach einem Gott suchen, die Bühnenbildner Volker Hintermeier da aufgebaut hat. Eine drehbare Installation mit Treppen und Gängen, in der Mitte eine Art offener Trichter. Darin zählt wahlweise der alte Karamasow sein Geld, empfangen Frauen ihre Liebhaber oder führt ein Priester-Mönch in Schwarz theologische Diskussionen mit dem ins Kloster geflüchteten Aljoscha (Günther Harder). Komplett sinnlos – Gott zeigt sich nicht. Über dem Gekreuzigten flackert immer nur der blendend-weiße Neon-Heiligenschein.
Am besten kommt in Laberenz’Adaption noch der alte Vater (Andreas Schlager) mit der völligen Abwesenheit einer übergeordneten Distanz klar. Unter einer Glühbirne kippt der fette, bärtige Lebemann Cognac, aus Plastik-Kanistern in Liter-Größe, wenn er nicht wie erwähnt sein Geld zählt oder seinen Söhnen kluge Ratschläge erteilt: Neben dem Finanziellen seien nur die Frauen von Belang, da kann man sich im Zweifel schon mal drum streiten, notfalls auch mit dem eigenen Nachwuchs.
Nach dem Tod dagegen, da erwartet Karamasow senior gar nichts. Zwischen all den Heiligenfiguren und Totenköpfen suhlt er sich behaglich im Exzess, die ganze Heiligkeit, sie kratzt ihn nicht in seinem orangen Bademantel. Sohn Dmitrij kommt dem Alten noch am nächsten: Henning Hartmann spielt ihn im orangen Sakko als von Leidenschaft zerfressenen Getriebenen, der mit verzerrtem Gesicht ständig das Objekt seiner Begierde wechselt. Frauen raunen und wispern, Scheinwerfer schimmern, Dmitrij weiß nicht wohin. Dann die Ablenkung: Der Heiland hängt schief. Unter den entsetzten Augen des heiligen Bruders versucht er das zu korrigieren, reißt die erstaunlich leichte Statue herunter, trägt sie durch den Raum und hängt sie schlussendlich wieder auf – verkehrt herum. „So, jetzt passt das Ganze.“
Später steht dann der priesterliche Aljoscha in seinem weißen Leibchen vor dem Kreuz und fragt schreiend die Statue, warum „er“, der Heiland, denn niemals, nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen habe. So wie den falschen Glauben reißt er sich die Kleidung vom Leib, kriecht in Unterwäsche über die Bühne, schreit und krakelt und erntet doch nur Schweigen.
Auf dem Kirchengestühl sitzt stumm eine schwarze Gestalt. Der illegitime Sohn Smerdjakow (Jakob Benkhofer) guckt den Karamasows lustvoll beim Zerbrechen zu. Dass er der Mörder des Alten ist, weiß niemand, nicht einmal der Mord spielt in den ersten vier Stunden überhaupt eine Rolle.
Als Dmitrij verhaftet werden soll, just als er sich in einem schmiedeeisernen Käfig mit der versponnenen Geliebten Gruschenka (Lisa Natalie Arnold) verknäult, stellen alle überrascht fest, dass niemand den Alten vermisst hat. Im Gegenteil: Hier schaffen die Söhne die Selbstzerstörung in gottloser Welt ganz alleine, dafür brauchen sie keinen Vater-Sohn-Konflikt. Und die unter den Zuschauern, die es länger aushalten, gleiten immer tiefer mit in diese trostlose Welt, deren konkrete Handlungsstränge freilich spätestens nach der Pause niemand mehr nachvollziehen kann. Da verdichtet sich ein Karussell aus Bildern und Tönen zu einer überzeugenden Dostojewskij-Installation: die den Roman nicht nacherzählt, sondern etwas Neues schafft – das erst mal durchdrungen sein will.
weitere Vorstellungen: 23. + 30. April, 6. + 8. Mai, Schauspiel Hannover
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