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Posen und Plauschen

Premiere Die deutsch-britischen Gob Squad bagatellisierten in der Volksbühne Tolstois 1.400-Seiten-Roman „Krieg und Frieden“

Es ist eine Leistung, einen 1.400-Seiten-Roman mit mehr als 250 Personen auf eine Figur und zwei gelungene Episoden zu komprimieren. Der deutsch-britischen Performancetruppe Gob Squad gelingt sie. Die Unsicherheit des Salonaußenseiters Pierre Besuchow lässt sie mit übergroßen Brillen auf den Gesichtern von aus dem Publikum rekrutierten Tischgästen entstehen. Die Irritation der bühnenungewohnten Mitspieler verschmilzt für die Betrachter mit dem Romannarrativ. Gob Squad ist dabei hoch anzurechnen, dass sie ihre temporären Mitspieler nicht vor-, sondern sanft in die Szenerie einführen und eine schöne Salonatmosphäre in der mit Sitzkissen versehenen Volksbühne kreieren.

An Tolstoi’schen Kompositionsprinzipien bei der Einführung der Figuren und dem Wechsel der Schauplätze kommt die postdramatische Performancetruppe freilich nicht her­an. Ihr Figurenreigen ist eine Revue dümmlicher Karikaturen, bei denen sich ärgerlicherweise auch noch die schrilleren Elemente wie opulente Blondperücken, Plateauschuhe und Bärenfellmützen wiederholen. Tolstois Jahrhundertroman über eine vom Leben gelangweilte aristokratische Elite, die begierig Infohäppchen von den Kriegs- und Revolu­tionsschauplätzen einsaugt und zu einem teils versnobten, teils leidenschaftlich aufgeladenen Diskurs verdaut, hat das Zeug zu einer Spiegelung aktueller Medienkonsumgewohnheiten. Gob Squad allerdings surfen nur auf Wikipedia-Niveau durch die Handlungsstränge.

Das wäre bei einem attraktiven Zugang zum Material noch verzeihlich. Mehr als die Ursprungsidee, einen Salon auf die Bühne zu zaubern und einige Häppchen aus dem Roman zu präsentieren, ist da aber nicht. Gut, Simon Will ist ein schöner Cherubim an der Harfe. Berit Stumpf gibt für Momente einen großen Zaren Alexander. Und das Apfel-Ess-Duell zwischen beiden als Besuchow-Doppel lässt endlich etwas von dem Anarcho-Humor der Truppe aufblitzen. Richtig schlimm wird es aber, wenn sie sich ans Titelthema Krieg und Frieden her­anwagen. Aus ihrer Rollenpräsentation als Lazarettschwester, die Verwundete Händchen haltend in den Tod begleitet, leitet Stumpf tatsächlich zu ihrem eigenen Bedauern über, ihren durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Großvater nicht auch derart hinausbegleitet zu haben. Wollte sie ihm, der sich laut Bühnenerzählung erhängt hat, den Strick halten? Ist ihr die Differenz zwischen dem egozentrischen Wunsch von Hinterbliebenen, eigene Befriedigung aus einer Verabschiedung mit den Toten zu ziehen und der empathischen Dienstleistung von Weißkittelprofis an ihnen weitgehend unbekannten Menschen nicht geläufig?

Löst sich Gob Squad mal von der Oberfläche ihrer Vorlage, wird erschreckende Unbedarftheit deutlich. Im Nachhinein darf man nur aufatmen, dass die Truppe das ursprüngliche Anliegen vom fördernden Intendanten Matthias Lilienthal, sich doch mal an den „Faust“ heranzuwagen, abgelehnt hat. Bleibt nur zu hoffen, dass Wladimir Putin jetzt nicht den Erdoğan gibt und Klage einreicht wegen Beschädigung russischer Kulturgüter. Tom Mustroph

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