Grundrechtseingriff ins Blaue hinein

AUSGESPÄHT Die Strafverfolgungsbehörden in Schleswig-Holstein machten voriges Jahr regen Gebrauch von Funkzellen-Abfragen: Mehr als 12 Millionen Handynutzer wurden geortet, aber noch nicht mal über diesen Grundrechtseingriff informiert

Soweit das Auge reicht: Rund um solche Handymasten sammelt Schleswig-Holsteins Polizei liebend gerne die Daten von Handy-Nutzern ein – ein wenig zu bereitwillig, findet die Piratenpartei Foto: Daniel Reinhardt/dpa

von Kai von Appen

Verlieren die schleswig-holsteinischen Strafermittlungsbehörden zunehmend die Hemmungen? Vervielfacht hat sich zumindest die Zahl ihrer nicht-individualisierten Funkzellenabfragen zum Zweck der Täterermittlung: Gegenüber 155 solcher Ersuchen im Jahr 2012 – das letzte Jahr mit belastbaren Zahlen – haben sie sich im vergangenen Jahr schon 825-mal an die Mobilfunkanbieter gewandt. Das antwortet die Kieler Landesregierung jetzt auf eine Anfrage der Piraten-Landtagsfraktion.

„Die Behörden haben im vergangenen Jahr erneut den Aufenthaltsort von Millionen unbescholtener Bürger ausgespäht, ohne dass diese darüber informiert wurden“, kritisiert der Piraten-Abgeordnete Patrick Breyer. Schätzungsweise mehr als 12.000.000 Handynutzer seien im vergangenen Jahr geortet worden, sagt er. Statistisch gesehen, wäre jeder Schleswig-Holsteiner schon mehrfach im Visier der Ermittler gewesen.

Große Premiere hatte die von Bürgerrechtlern als „Handy-Rasterfahndung“ bezeichnete Vorgehensweise am Ostersonntag des Jahres 2008: Von einer Autobahnbrücke bei Oldenburg hatte ein Drogenabhängiger einen Betonklotz auf die Windschutzscheibe eines Autos geworfen. Die Beifahrerin starb, es gab keine Zeugen. Die Polizei beantragte Zugriff auf sämtliche Verbindungsdaten aller Netzanbieter für die Sendemasten in der Umgebung über einen Zeitraum von 17 bis 22 Uhr.

Eine Familienrichterin, die an diesem Tag zufällig Ermittlungsrichter-Eildienst schob, erteilte die Genehmigung. In einem Radius von rund 1,5 Kilometern gerieten damit 10.000 Menschen in die Fahndung, einige wurden gar zu Beschuldigten. Die Telefondaten des Täters ermittelte die Polizei erst, als dieser sich auf einer Polizeiwache stellte.

In Schleswig Holstein gehören Funkzellen-Abfragen inzwischen zum Repertoire der Polizei, und das bei fast allen Ermittlungen – nicht nur bei schweren Straftaten oder Kapitalverbrechen. So kann auch ein Diebstahl oder Wohnungseinbruch schnell unter Hinweis auf die „psychischen Folgen für das Opfer“ aus Sicht der Ermittler zu einer Tat von „erheblicher Bedeutung“ werden.

Angesichts von Millionen erfasster Handynutzer liegt der Anteil derjenigen Personen, bei denen es einen konkreten Anfangsverdacht gibt, im Promille-Bereich. Und trotzdem möchte die Polizei auf diese Datensätze, die als Vorratsdaten teils sehr lange gespeichert werden, nicht verzichten. „Die nicht-individualisierte Funkzellenabfrage dient vor allem dazu, die Verkehrsdaten verschiedener Tatorte und -zeiten auf Übereinstimmungen miteinander abzugleichen, um so Straftatenserien mit den mutmaßlich selben Tätern erkennen zu können“, erklärte die Kieler Landesregierung im Jahr 2012. Auch damals hatten die Landtags-Piraten sich erkundigt.

Bei einer Funkzellen-Abfragefordert die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft und fußend auf Paragraf 100 der Strafprozessordnung die Nummern der Mobiltelefone an, die sich in einem bestimmten Zeitraum rund um einen etwaigen Tatort befunden haben und vom Netzbetreiber registriert worden sind.

Von „erheblicher Bedeutung“müssen die dabei verfolgten Straftaten sein. Erforderlich ist eine richterliche Anordnung, die aber auch nachträglich eingeholt werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft Eile geltend macht.

Ob mit den Handys telefoniert wurde, ist unerheblich: Es reicht, wenn sie im Standby-Zustand registriert wurden. In dünn besiedelten Gebieten – und in der Folge größeren Funkzellen – können erhebliche Zahlen von Handys und Handy-Nutzern betroffen sein.

Nach einer Serie von Auto­brandstiftungen nahm die Hamburger Polizei 2011 Abstand davon, eine Funkzellenabfrage zu beantragen: Die dortigen Richter hielten einen Eingriff ins Fernmeldegeheimnis „ins Blaue hinein“ mehrheitlich für „unverhältnismäßig“. Aktuell führe man in Hamburg keine Statistik über derartige Abfragen, teilt Polizeisprecher Holger Vehren auf taz-Anfrage mit.

In Frage stellt auch Schleswig-Holsteins Datenschutzbeauftragte Marit Hansen das Instrument. Sie fordert zumindest mehr Transparenz – und dass die Betroffenen wenigstens im Nachgang über ihre Ausspähung informiert werden. Das sei schon deshalb nötig, so Hansen, um die „oft argumentierte Notwendigkeit zu hinterfragen“. Auch aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist die Maßnahme ein schwerwiegender Grundrechtseingriff: „Der Einzelne ist in seiner grundrechtlichen Freiheit umso intensiver betroffen, je weniger er selbst für einen staatlichen Eingriff Anlass gegeben hat“, erklärte es.

„Wir bleiben dabei“: Pirat Breyer verlangt ein Ende der Massen-Ausspähung. „Einfach ins Blaue hinein alle Handynutzer im Umkreis eines Tatorts zu erfassen, ist unverhältnismäßig.“