Wunderland ohne Konsequenzen

SCIENCE-FICTION-THEATER Jennifer Haleys „Die Netzwelt“ ist eine düstere Dystopie über Begehren, Gewalt, Moral, Recht und Verantwortung in einer Welt, in der Reales und Virtualität ununterscheidbar werden

Wirklich alles ohne Konsequenzen? Ermittler Woodnut (Björn Ahrens) ermordet sein Lustobjekt Iris (Annika Schrumpf) in der „Netzwelt“ Foto: Anatol Kotte

von Robert Matthies

Mord? Vergewaltigung? Er ist sich keiner Schuld bewusst. Sind doch alles nur Gedanken und Bilder, passiert doch alles nur in der Fantasie – ein Rollenspiel ohne Konsequenzen, moralisch nicht und schon gar nicht rechtlich. Schließlich sind alle Beteiligten erwachsen und was sie tun, tun sie freiwillig. Warum also die Aufregung?

„Sims“ heißt der von Christian Kohlund als großväterlicher Playboy im Kimono gespielte Angeklagte – so wie die Figuren im meistverkauften Computerspiel-Franchise aller Zeiten. Und „Die Netzwelt“ ist der Titel des Stücks von Ralph Bridle, das jetzt in den Kammerspielen Premiere gefeiert hat. In dieser „Netzwelt“, einer alle Sinne umfassenden Weiterentwicklung des Internets, betreibt dieser Sims eine selbst programmierte, technisch perfekte künstliche Welt: eine „Domäne“.

„Papa“ nennen ihn deren Bewohner wie auch die Kunden in seinem „Refugium“: Gegen Entgelt, anonym und ohne Konsequenzen können sie ihrem in der realen Welt verbotenen, als absolut unmoralisch geltenden Begehren freien Lauf lassen: ein virtuelles Bordell, in dem sie sich eines der allesamt gleich aussehenden minderjährigen Alice-im-Wunderland-Mädchen aussuchen können für eine „Beziehung“ – Sex und anschließendes Zerstückeln mit der Axt eingeschlossen. Doch nun ist die selbst ernannte Netzpolizei hinter Sims her: Die Vigilantentruppe, die solchem Treiben ein Ende bereiten will, hat seine Identität herausgefunden .

Horror und Moral

„The Nether“ heißt das preisgekrönte Stück der US-amerikanischen Dramatikerin Jennifer Haley im Original, ein Spiel mit den Bedeutungen des Worts: Niemandsland, Unterwelt, aber auch – Genitalbereich. Es ist eine bisweilen bemüht konstruierte Mischung aus Sci-Fi, Whodunit-Krimi, Horrorelementen und moralphilosophischem Essay.

Eine Dystopie, in der die Menschen längst einen Großteil ihres Lebens online verbringen, nicht wenige haben ihr körperliches Dasein schon vollkommen zugunsten eines virtuellen Lebens als Avatar in einer „Domäne“ aufgegeben: An lebenserhaltende Maschinen angeschlossen, liegen sie nur noch als „Schatten“ herum.

Dass ihr Vater auch so ein Schatten war, erklärt den Furor von Detektivin Morris, von Neda Rahmanian etwas farblos gegeben; im Namen der obskuren Netzpolizei verhört sie Sims, versucht herauszufinden, wo er seinen Server versteckt hat. Auch Doyle, ein alternder und desillusionierter, pädophiler theoretischer Physiker – Marco Albrecht, auch ein wenig blass – steht kurz vor der Entscheidung, endgültig „überzutreten“ in Sims „Refugium“.

Im etwas ermüdenden Wechsel zwischen Zwiegespräch im neonröhrenbeleuchteten Verhörraum und Szenen im auch eher einfallslos hinter einer Glaswand abgetrennten „Refugium“ mit Mädchentraum-Zimmer nebst riesigem Kuscheltierhaufen entspinnt sich die Geschichte als immer weiter voranschreitende Komplizierung von Identitäten, Begehren und Verantwortungen.

Der verdeckte Ermittler Woodnut etwa, der die Refugiums-Bewohnerin Iris auszuhorchen versucht und schließlich selbst von ihr angezogen wird, entpuppt sich später – Achtung, Spoiler! – als Avatar der Detektivin selbst. Und auch die Beziehung zwischen dem Pädophilen Doyle, dem Lustobjekt Iris, „Papa“ und schließlich Morris – alles doch so viel komplizierter! Allerlei durchaus interessante moralische, rechtliche und philosophische Ambivalenzen und Unsicherheiten treten so zutage.

Letztlich aber schreckt die Umsetzung des Stücks vor seiner Grundidee zurück. Zu statisch und erwartbar verläuft die Krimi-Geschichte, zu sehr festgezurrt werden die Ambivalenzen doch wieder im Hin und Her zwischen Verhörraum und Netzwelt, zu mechanisch wirkt die Dialektik der beiden Seiten der Argumentation.

Wenig Raum fürs Ensemble

Vor allem die Verhöre lassen dem Ensemble kaum Raum zum Spielen und sind nicht mehr als ein Wechselspiel zwischen allesamt legitimen Positionen, in dem die absolute Freiheit aber immerzu nur der etablierten moralischen Ordnung gegenübergestellt wird. Über oft zähe Strecken hinweg wirkt „Die Netzwelt“ so nur wie ein Selbstgespräch der Autorin mit sich selbst.

Nächste Aufführung: Sa, 16.4. ,20 Uhr, Kammerspiele