Medien in der Türkei: Im Reich des Beleidigten
Türkische Medien sind kaum noch kritisch, dafür sorgt der Präsident. Einer findet die unbequemen Beiträge bestimmt: Gönenç Ünaldı.
Er ist 35 Jahre alt, arbeitet in der Immobilienbranche, trägt ein kariertes Hemd, eine Brille und eine Kappe – unauffälliger geht es nicht. Doch er bewegt sich schon lange außerhalb jeglicher Komfortzone. „Niemand soll behaupten können, dass er nicht darüber Bescheid weiß, was hier in der Türkei passiert, so wie die Menschen es mit Nordkorea tun“, sagt er.
Der studierte Medienwissenschaftler betreibt auf Facebook die Seite „Istanbul Revolution“. Hier dokumentiert er auf Englisch – um ein weites Publikum zu erreichen – den politisch-medialen Alltag in der Türkei. So etwa am Dienstag, als er ein Bild von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und dem saudischen König Salman bin Abdulasid al-Saud postete.
An diesem Tag ehrte der Türke den Araber in Ankara mit der „Medal of State“ und betonte, der Preis werde dem König für dessen Einsatz für die „Sicherung des Friedens, der Stabilität und Sicherheit im Nahen Osten“ verliehen.
„Der Böhmermann-Witz war dumm“
Wie Erdoğan auf solch eine Preisrede kam, ist angesichts der Menschenrechtssituation nicht zu erklären. Denn laut Amnesty International ist die Zahl der Hinrichtungen im Nachbarland 2015 im Vergleich zum Vorjahr von 90 auf mindestens 151 gestiegen. Anfang Januar ließ Salman in einer Nacht rund 47 Männer wegen Terrorismusvorwürfen hinrichten. Darüber wurde in den regierungsfreundlichen türkischen Medien kein Wort verloren. Im Gegenteil: Der König wird noch als „guter Freund“ gewürdigt, freute sich die Onlinezeitung Daily Sabah.
Rund 16.200 Personen folgen Ünaldı auf Facebook, der nach seinem Feierabend das Internet nach Artikeln durchforstet und diese dann verlinkt. Er selbst bezeichnet sich als Kemalist und Atheist, der Erdoğan schon immer misstraut habe. So ist ein Großteil der Texte Erdoğan-kritisch. Bei seinen Kommentaren wird er nie beleidigend, er macht lediglich auf Artikel aufmerksam, die in der mittlerweile überwiegend staatstreuen türkischen Presse kaum noch zu finden sind. Etwa darüber, als im Wahlkampf im Oktober 2015 ein AKP-Bezirksbürgermeister eine Tüte verteilte, auf der statt wie gedacht „Wir arbeiten für die Zukunft“ der Spruch „Wir klauen für die Zukunft“ stand.
Europas Botanische Gärten werden nach und nach geschlossen. Ob sie noch zu retten sind, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28./29. Mai. Außerdem: Elf kongolesische Blauhelmsoldaten stehen vor einem Militärgericht – wegen mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs im Rahmen der UN-Friedensmission in der Zentralafrikanischen Republik. Kann nun Recht gesprochen werden? Und: Am 5. Juni stimmen die Schweizer über das bedingungslose Grundeinkommen ab. Wie lebt es sich damit? Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Oder als er vergangene Woche einen Artikel aus der New York Times über den Fall Jan Böhmermann postete, als türkische Medien noch gar nicht darüber berichteten. Dessen Schmähgedicht hält er für „keinen klugen Schachzug“, wenig intelligent, und fragt, wie diese „beleidigenden Worte“ behilflich sein sollten, die Missstände in seiner Heimat zu kritisieren. Aber natürlich sei Ankaras Reaktion maßlos. „Der Böhmermann-Witz war dumm, eine Forderung nach einer Strafe ist zu viel“, so Ünaldı.
Erdoğans Agenda
Geboren im südwestlichen Muğla, schrieb er schon als Student in Istanbul AKP-kritische Artikel, unter anderem auch für die säkulare Tageszeitung Cumhuriyet. Schon immer, so der Bürgerjournalist, habe er Erdoğan als einen Mann mit einer gefährlichen Agenda angesehen. Für ihn hat sich der Politiker das Hemd eines Demokraten angezogen und mit seinen vielen Zugeständnissen während seiner ersten zwei Amtszeiten als Ministerpräsident nur die Nation und die Welt genarrt. Denn nachdem Erdoğan einsehen musste, dass die Kemalisten noch zu stark seien, habe er seine Ideologie schlicht versteckt.
Aber können Radikale nicht zu Reformern werden, so wie es bei Erdoğan anfangs auch den Anschein hatte? Sicher sei das möglich, so Ünaldı. „Aber was ist mit seinen Anhängern? Millionen von Menschen können sich nicht einfach so ändern.“ Erdoğan sei letztlich ein Kind der islamistischen Millî-Görüş-Bewegung. Den EU-Beitritt habe er nur forciert, um innerhalb der Türkei Stimmen zu gewinnen. „Die Sehnsucht nach einer Zugehörigkeit war damals groß, und die Europäer hatten sich ein Wunschbild eines Mannes zurechtgelegt, an den sie unbedingt glauben wollten“, sagt er.
Um diesem Bild zu entsprechen und seinen Durchmarsch durch die Institutionen voranzutreiben, habe er zunächst die Liberalen, das Militär und die Kurden ausgehalten und erst von Wahlsieg zu Wahlsieg mit ihnen abgerechnet. Angefangen mit „Istanbul Revolution“ hat Ünaldı während der Gezi-Proteste im Sommer 2013. Damals, als etwas Unerhörtes passierte, als Millionen Menschen landesweit gegen Erdoğan – zu der Zeit noch Ministerpräsident – auf den Straßen aufbegehrten und seinen Rücktritt forderten.
Medien und Bürger drangsaliert
Die ganze Welt konnte live dabei zuschauen, was für ein tiefer Riss durch die türkische Gesellschaft ging, nur die Türken im Land selbst wurden kaum über die Bürgerrevolution informiert. Deswegen, so Ünaldı, gründete er die Facebook-Seite – um die Missstände für seine Landsleute und den Rest der Welt aufzuzeigen. Er kann überhaupt nicht verstehen, dass dieses landesweite Bürgeraufbegehren von so vielen Europäern als Überraschungsmoment gesehen wurde. Jeder, der sich mit Erdoğan beschäftigte, müsse doch erkannt haben, wessen Geistes Kind dieser sei.
„Europäische Politiker, wie Claudia Roth, die sich plötzlich entschuldigten und behaupteten, sie hätten Erdoğans wahren Charakter nicht gekannt, müssen unglaublich dumm gewesen sein“, kritisiert Ünaldı. „Roth kam während der Proteste nach Istanbul und nannte Erdoğan in einer Rede ‚Diktator‘. Aber er ist doch nicht innerhalb von zwei Wochen zu einem Diktator geworden. Warum haben sie nicht vorher mit uns gesprochen? Wir haben doch immer auf die Missstände hingewiesen, wir haben doch darüber berichtet. Ich akzeptiere nicht, dass die Europäer sagen, Erdoğan habe sie alle angelogen.“
Ünaldı weiß, dass er in der Türkei nicht ohne das Wissen der Obrigkeit online sein kann. Wie überall auf der Welt kann auch hier alles, was ein Mensch im Internet macht, ausgespäht, rückverfolgt und dem jeweiligen Nutzer zugeordnet werden. Wenn es den Machthabern nicht gefällt, dann folgen strafrechtliche Konsequenzen. In letzter Zeit wurden immer mehr Medien, Journalisten, aber auch ganz gewöhnliche Bürger, die online ihre Meinung kundtaten, drangsaliert.
Alleine seit Erdoğans Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 wurden mehr als 1.800 Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eröffnet. Die linke Tageszeitung Birgün, deren Chefredakteur kürzlich auch deswegen zu 21 Monaten Haft verurteilt wurde, widmet dem beleidigten Politiker mittlerweile sogar eine eigene Rubrik mit dem Titel: „Heute in der Präsidentenbeleidigung“.
Wenigstens ein Versuch
Gönenç Ünaldı ist kürzlich Vater geworden, er will seiner Tochter später sagen können, dass er sich für die Demokratie eingesetzt hat. Am liebsten würde er das Land verlassen, doch seine finanziellen Mittel seien nicht ausreichend, und die Aussichten auf einen Job im Ausland schlecht. Mit „Istanbul-Revolution“ will er aber so lange weitermachen, wie es geht. Ob er sich nicht fürchtet?
„Ja, ich habe Angst. Aber das ändert nichts. Ich mache das für meine Tochter.“ Die ganzen Hassnachrichten, in denen er als „Vaterlandsverräter“ beschimpft werde, ignoriere er. „Ich weiß, ich kann nichts mit meinem Facebook-Account ändern. Aber ich kann zumindest sagen, dass ich es versucht habe.“
Das Buch: „Erdoğan – die Biografie“ der Autorin Çiğdem Akyol erscheint am 18. April
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