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Das Ding, das kommtZeitgeist in Tinte

Die Tätowiermaschine hilft jetzt in Hamburg dabei, sich ästhetische Verbrechen von der Haut zu schaffen – zugunsten neuer Foto: jeanlitb/ Wikimedia Commons

Viel ist nicht übrig vom Ruch des rebellischen Außenseitertums, vom Medium der Selbst- und Fremd­stigmatisierung von Matrosen, Prostituierten und Rockern: Allerspätestens, seit Ex-Bundespräsidentengattin Bettina Wulff ein verblassten Baphomet-Tattoo zur Schau stellte, ist die Modifikation des eigenen Körpers durch in die Haut gestochene Farbe in der Mitte der Gesellschaft angekommen – die Tätowierung, ein Stempel des Gewöhnlichen.

Nahezu einer von vier Deutschen zwischen 16 und 29 trägt heute ein Tattoo, der Hälfte dieser Altersgruppe gefällt es zumindest bei anderen gut. Bei den 30- bis 44-Jährigen trägt noch jeder Fünfte Anker, Tribal oder Schriftzug am Arm – oder ein Geweih über dem Arsch. Das hat vor zwei Jahren das Ins­titut für Demoskopie Allensbach in einer repräsentativen Studie her­ausgefunden. Längst ist das Tattoo auch Gegenstand von Gegenwartskunst und Museums-Ausstellungen. Dort lernt man beispielsweise, dass die Tätowierungswut so neu nun auch wieder nicht ist: Schon im 19. Jahrhundert war fast jeder Fünfte in Europa tätowiert, schätzt der Kulturhistoriker Stefan Oettermann, Autor von „Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa“ – Adelige ebenso wie die Ärmsten.

Verbrecher-Typisierer wie der italienische Kriminologe Cesare Lombroso haben Ende des 19. Jahrhunderts die Sichtweise salonfähig gemacht, nur der „geborene Verbrecher“ mit seinem Hang zum „Primitiven“ sei tätowiert. Wenn ein Tätowierter also noch kein Verbrechen begangen habe, werde er es unweigerlich irgendwann tun.

Über so einen Quatsch schüttelt man heute den möglicherweise komplett tätowierten Kopf. Aber so ganz ist der Nachhall des alten Biologismus offenbar doch noch nicht verklungen: Die falsche Tätowierung zu haben, das scheint ja immer mehr Tätowierten geradezu ein Verbrechen am Zeitgeist zu sein: Zur massenhaften Tätowierungswut gesellt sich daher – und das gab es früher so noch nicht – eine ebenso massenhafte Enttätowierungswut.

Nur: Vollkommen spurlos lässt sich so ein uncool gewordenes Arschgeweih nicht mal per Laser entfernen. Bleibt als verlässlicherer Weg ein Update. Ein Weg zum vorerst zeitgemäßen Hautstich wiederum ist der Besuch einer „Tattoo Convention“, wie die, bei der sich an diesem Wochenende in Hamburg allerlei Koryphäen tummeln. Ist dann auch das Update irgendwann untragbar geworden: In zwei Jahren summen die Nadeln ja wieder. MATT

Sa, 26. 3., bis Mo, 28. 3., Hamburg, Markthalle

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