SONNTAG in bremen
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„Eine große Erschöpfung“

AUSSENPOLITIK Der Übersetzer und Essayist Jurko Prochasko berichtet aus der Ukraine

Jurko Prochasko

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45, ist Germanist, Schriftsteller und Übersetzer aus Lwiw (Lemberg) in der Ukraine.

taz: Herr Prochasko, Sie haben Freud und Kafka übersetzt – ins Russische?

Jurko Prochasko: Nein, ich übersetze ins Ukrainische.

Haben Sie da Assoziationen mit der Situation der Ukraine?

Sie versuchen mich zu verführen zu einer plakativen Aussage der Art, wir hätten da eine kafkaeske Neurose. Nein, so kann man das nicht sagen. Kafka war 1914 begeistert von dem Krieg gegen England und Frankreich, hat sich vielleicht die Lösung seiner inneren Konflikte erhofft. Pazifist wurde er erst später. Die Psychoanalyse solle nach Freud ein neurotisches Leid durch das normale ersetzen. Das kann man vielleicht auf die Maidan-Revolution beziehen: Niemand hat gehofft, dass sich das Land über Nacht in ein Paradies verwandelt. Aber wir wollten das neurotische Leid, dass zum Beispiel durch die Übermacht der Oligarchen entsteht, durch das normale Leid einer halbwegs funktionierenden Konsens-Gesellschaft ersetzen.

Sie kommen aus Lwiw, das wir Lemberg nennen. Ist das nicht eine ganz andere Welt als die Ost-Ukraine?

Was nennen Sie die Ost-Ukraine? Die besetzten Gebiete des Donbass machen vielleicht fünf Prozent der Ukraine aus. In der Ukraine gibt es fast zwei Millionen Flüchtlinge aus diesen besetzten Gebieten. Die Besetzung war keine interne ukrainische Reaktion, ohne die russische Intervention wäre es nicht dazu gekommen.

Was nun?

In der Ukraine ist eine große Erschöpfung und Frustration zu spüren, gleichzeitig eine große Wut auf die Langsamkeit der Veränderungen. Die Gebiete des Donbass werden vollgepumpt mit russischen Waffen. Wir haben eine Debatte, ob wir um jeden Preis diese Gebiete zurückgewinnen müssen. Die Gebiete sind sehr vergiftet, eine Reintegration würde sehr lange dauern. Dieser Krieg ist eines der schwersten Probleme, die die Ukraine heute belasten, wirtschaftlich, moralisch, psychisch.

Sonntag, 11 Uhr, Café Ambiente, Osterdeich 69