Berlinmusik: Das Leiden überarbeiten
Ist es fragwürdig, sich an Musik über das Leiden eines anderen zu erfreuen? Das kommt zunächst einmal ganz auf die Musik an. Bei Johann Sebastian Bachs „Johannespassion“ ist die Musik so alterungsbeständig, dass sie sich auch mehr als 290 Jahre nach ihrer Uraufführung regen Interesses erfreut. Und für alle Kritiker, die fragen, wozu es denn noch immer neue Einspielungen dieses wohl dokumentierten Werks braucht, hat der Dirigent René Jacobs eine entwaffnende Antwort parat.
René Jacobs, der vor drei Jahren schon mit seiner Aufnahme von Bachs „Matthäuspassion“ ungewohnte Wege eingeschlagen hat, ließ sich diesmal inspirieren von den zahlreichen Fassungen, die Bach von der „Johannespassion“ von 1724 bis zu seinem Tod 1750 angefertigt hat. Zu der „etablierten“ letzten Fassung hat Jacobs daher einen Anhang mit fünf Nummern beigesteuert, Arien und Choräle, die Bach für seine Version von 1725 hinzukomponiert hatte.
Doch selbst ohne diese „Bonustracks“ überzeugt diese Interpretation mit ganz eigenem Charakter. Jacobs’musikalische Hauptmitstreiter, der Rias-Kammerchor und die Akademie für Alte Musik Berlin, sind bestens aufeinander eingespielt, vor allem aber hat Jacobs eine weitere Nuancierung in die Chorsätze eingearbeitet. So sind für die Chorstimmen Solosänger vorgesehen, die „Konzertisten“, zu denen die übrigen Sänger hinzukommen, die „Ripienisten“, die den Klang „auffüllen“.
Besonders schön kann man das im Eingangschor „Herr, unser Herrscher“ hören, in dem anfangs der volle Chor einsetzt, um dann, in dem stilleren Abschnitt „Zeig uns durch deine Passion“, von den Konzertisten abgelöst zu werden. Im weiteren Verlauf übernimmt dann wieder der Rias-Kammerchor mit seinem hochentwickelten Klang, den er – je nach Bedarf – nahezu unbegrenzt modellieren kann. Hier leidet man mit, ohne sich dessen bewusst zu werden.
Hören ohne Leiden – zumindest als Programm – bietet stattdessen die in Berlin lebende Japanerin Kyoka auf ihrer jüngsten EP „SH“. In vier abstrakten elektronischen Miniaturen lässt sie frei pochende Rhythmen, Tröpfeln, Knistern und schwebende Sägeklänge mit sehr viel Luft drumherum einander im Raum umkreisen. Oder umstellt einen stampfenden Beat mit reichlich Rauschen, Klackern und anderen wenig greifbaren Obertongebilden. Auch damit ließe sich die Passionszeit prächtig zubringen.
Tim Caspar Boehme
Johann Sebastian Bach „Johannespassion“: René Jacobs (Harmonia Mundi)
Kyoka: „SH“ (Raster-Noton)
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