Premierenpublikum in Champagnerlaune
: Todgeweihtes Theaterhaus

Ausgehen und rumstehen

von Sascha Ehlert

Wie schon Heidegger sagte: Der Mensch ist noch nicht der Sterbliche“, sagt er, nestelt an seinem bunt gestrickten Pulli, Marke Carlo Colucci (made in Germany), herum und nippt andächtig an seiner Weißweinschorle. Der Wein schmeckt kantig, erdig, billig – ja, das hier ist die Volksbühne. Es ist Freitagabend, kurz vor sieben, ich lehne mich mit dem Rücken an eine der Säulen, gucke Menschen an und leere den Restwein in meinem Glas kurzerhand in mich hinein.

Was gibt’s Schöneres zum Start ins Wochenende als einen Premierenabend in der Volksbühne? Heute steht „Erobert euer Grab“ über dem selbst dem Tode geweihten Theaterhaus. Die Banderole, auf der dies geschrieben steht, ist natürlich schwarz, genauso schwarz wie die Sitzsäcke und die bedrückend morbiden Lametta-Vorhänge aus Bert Neumanns letztem Bühnenbild. Seit dessen Tod und dem gespenstisch kurz zuvor verkündeten Ende der Ära Castorf ist in der Volksbühne Totentanz-Zeit.

Die wunderbar stilvollen Künstlerinnen, die Jackettträger, die Skandinavier und die in proletarischer Streetwear auftretenden Nachwuchsdramaturgen sind nichtsdestotrotz in Champagnerlaune. Klar, sie sind ja auch wer: Premierenpublikum. Elitärer Dreckshaufen, denke ich und fasse mir an meine Nase.

Tickets wofür? Ist ja bei Premieren eher unwichtig, aber egal: „Krieg“ heißt der Abend, eine Oper in einem Akt, ein Tableau vivant über den Todeskampf eines Soldaten, erdacht vom Performance-Künstler Ragnar Kjartansson und unterlegt mit kitschiger Orchestermusik von Kjartan Svensson von Sigur Rós – ein Pop-Kunst-Ereignis par excellence.

Maximilian Brauer, dieser absolut irrlichternd grenzdebile Typ, stirbt darin, sechzig Minuten lang. Als er endlich tot ist, endlich liegen bleiben darf, klatscht das Publikum teilnahmslos. Traurig schleiche ich aus dem Saal, flüchte mich in die Katakomben und lasse mich in die Kantine führen. „Eine Weißweinschorle, bitte.“

Die Volksbühne startete mit diesem Abend seine „Schwarze Serie“ – sieben Premieren in sieben Wochen – natürlich erhöht ein Haus wie dieses den eigenen Abgang so selbstreferenziell und bedeutungsschwanger wie nur möglich. Dann brummt mein Smartphone.

So vibriert es nur, wenn Spiegel Online mir was sagen will: Eilmeldung, guck auf die Glasplatte! Es ist 18 Uhr und natürlich ist mal wieder alles noch schlimmer. Das Kneipenpublikum starrt auf große Flachbildfernseher, es läuft Fußball. Ich starre auf mein Glas und puste versonnen in den Bierschaum. „Wie wollen wir sterben?“, fragt Carl Hegemann.