Berlinmusik: Segel und Säuseln
Hier gibt es echte Dramatik: eine drohende Hungersnot nach langer Dürre, kämpferische Auseinandersetzungen um Glaubensfragen und ein verfolgter Prophet, der in der Wüste an sich selbst zu zweifeln beginnt. Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium „Elias“, eines der Hauptwerke des Komponisten, bietet nicht nur von der Handlung her reichlich Spektakelwerke. Auch musikalisch war der „Elias“ superlativisch angelegt: 271 Chorsänger und 125 Orchestermusiker reisten 1846 zur Uraufführung auf dem Musikfestival in Birmingham, im eigens bereitgestellten Sonderzug. Dass die aktuelle Einspielung unter Hans-Christoph Rademann mit dem RIAS Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin mit weniger als 100 Musikern auskommt, bedeutet dabei keinen Verlust. Im Gegenteil, die im Vergleich eher kammermusikalische Besetzung gewinnt mit Präzision und Transparenz, die gerade in den Chorpartien besonders wichtig sind. Denn der eigentliche Star dieses Werks ist der Chor, der oft einige der dramatischen Höhepunkte für sich beanspruchen kann, gern in polyphonem Chorsatz – Mendelssohn-Bartholdy war ein Verehrer von Johann Sebastian Bach.
Was nicht heißt, dass die Solisten gegenüber dem Chor abfielen, und auch das Orchester trägt mit seinem schlank-eleganten Spiel entscheidend zum Spannungserhalt bei. Etwa im zentralen Chorstück „Der Herr ging vorüber“. Da zerreißen Berge, Felsen zerbrechen, die Erde erbebt. Chor und Orchester empfinden diese apokalyptischen Bilder beinahe lautmalerisch nach. Bis sich der Herr tatsächlich nähert, ganz diskret, fast lautlos: „Und in dem Säuseln nahte sich der Herr.“
Eine leicht andere Form der Dramatik findet sich in Karlheinz Stockhausens „Aus den sieben Tagen“, einem Zyklus von Textkompositionen, die ohne Noten auskommen und sich auf sprachliche Anweisungen beschränken. „Intuitive Musik“ nannte Stockhausen seinen Ansatz. Es ist eine Art improvisierte Musik, die weniger meditativ als unmittelbar gedacht war. Das Berliner Ensemble Zeitkratzer hat sich dieses Werk jetzt schon zum zweiten Mal für eine Aufnahme vorgenommen, diesmal verstärkt vom japanischen Noise-Magier Keiji Haino. Dessen Schreien und Gurgeln ist zu vernehmen auf Stücken wie „Unbegrenzt“ oder dem großen Finale „Setz die Segel zur Sonne“. Passt irgendwie.
Tim Caspar Boehme
Felix Mendelssohn-Bartholdy: „Elias“ (accentus music)
Zeitkratzer + Keiji Haino: „Stockhausen: Aus den sieben Tagen“ (zeitkratzer productions/Karlrecords)
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