Zeitforscher über Tage und Stunden: „Natur kennt keinen Takt“
Wer die Uhrzeit festlegt, hat Macht, sagt Zeitforscher Karlheinz Geißler. Weil wir fremdbestimmt sind, ärgern wir uns so über die Sommerzeit.
taz: Herr Geißler, existiert Zeit objektiv? Oder erschaffen wir sie, indem wir sie messen?
Karlheinz Geißler: Wir erschaffen sie durchs Messen. Bevor es die Uhr gab, hat man nicht über Zeit gesprochen.
Aber man hat in ihr gelebt.
Natürlich. Aber der Begriff „Zeit“ ist ein Konstrukt. Das Werden und Vergehen, die Veränderung in und um uns nennen wir Zeit.
Woher kommt das Wort „Zeit“?
Von dem Wort Tide, also von den Gezeiten, an denen sich am Meer lebende Völker orientieren. Das spiegelt sich in vielen nordeuropäischen Sprachen. In den romanischen Sprachen ist das Wetter die Maßeinheit. Das französische „temps“ etwa bedeutet „Wetter“ und „Zeit“.
71, emeritierter Wirtschaftspädagogik-Professor, Philosoph und Autor, ist Leiter des Projekts „Ökologie der Zeit“ und Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Derzeit leitet er das Institut für Zeitberatung „timesandmore“ in München.
Was hat unsere Uhr überhaupt mit dem Takt der Natur zu tun?
Die Natur kennt keinen Takt. Ihr Zeitmuster ist der Rhythmus. Auch das menschliche Herz schlägt nicht im Takt, sondern rhythmisch. Rhythmus bedeutet: Wiederholung mit Abweichungen.
Und der Mensch hat eine Uhr gebastelt und künstliche Symmetrie draufgesetzt. Tut man der Natur damit nicht Gewalt an?
Ja. Unser Dilemma ist, dass wir ein rhythmisches System vertakten. Das erzeugt auch ein ökologisches Problem: Sie leiten in einen See Abwässer ein, und zwar in bestimmten Intervallen, nach der Uhr. Sie muten einem System, das sich rhythmisch regeneriert, eine vertaktete Belastung zu, bis es kippt.
Wann kippt der Mensch?
Beim Herzinfarkt. Der ist nichts anderes als die Vertaktung des Herzens: die Störung des Herzens durch zu viel von der Uhr bestimmte Aktivität. Der Herzschrittmacher versucht es dann wieder in den Rhythmus zu bringen. Nicht in den Takt.
Vertaktung bedeutet also Entfremdung von der Natur.
Ja. Vertaktung ist ein totes Mittel, die Uhr hat ein totes Muster. Dieses tote Muster wird einem lebendigen System zugemutet.
Welches wäre die Alternative?
Keine Uhren! Und genau das machen wir zurzeit. Die sogenannte Postmoderne zeichnet sich dadurch aus, dass wir uns von den Standard-Zumutungen der Uhr wieder lösen und den Takt außer Kraft setzen: Da wird etwa die Tagesschau nach dem Programm – der Vertaktung – um 20 Uhr geliefert. Aber Sie können die Sendung nach der Erstausstrahlung auch in der Mediathek schauen, wann Sie wollen. Dadurch konsumieren Sie mehr, das dient der Wirtschaft, und es schließt sich der Kreis. Denn mit der Uhr wurde der Kapitalismus erfunden.
Ist das historisch verbürgt?
Ja. Die Uhr, die doppelte Buchführung, die erste Bank – das alles wurde Anfang des 14. Jahrhunderts in Norditalien erfunden. Die Uhr führte zum Fall des Zinsverbots, die doppelte Buchführung war die kalkulatorische Grundlage für die Verrechnung von Zeit, und die ersten Banken verrechneten ganz konkret Zeit in Geld. Gleichzeitig überlegten die ersten Philosophen der Renaissance, ob man die Zeit selbst in die Hand nehmen könnte. Bis dahin hatte die Zeit ja Gott gehört, so die mittelalterliche Vorstellung.
Aber auch das Mittelalter kannte Kalender.
Ja, aber das waren Heiligenkalender, keine Datumskalender.
Der überlieferte julianische Kalender der alten Römer war doch kein Heiligenkalender.
Julius Cäsar hat den Kalender gemacht, um die römischen Feste zu organisieren. Und die Monate waren nach römischen Herrschern benannt.
Was Ihre These stützt, Zeit sei ein Herrschaftsinstrument.
Ja, natürlich. Als die Zeit Gott gehörte, war Gott Besitzer der Zeit; die Menschen haben sich nach den kirchlichen Festen gerichtet. Später haben die Herrschenden das übernommen und mit Hilfe der Uhr Ordnung geschaffen.
Wirklich?
Ja, so ist es bis heute! Nachdem Putin die Krim annektiert hatte, stellte er als erstes deren Zeit auf die Moskauer Zeit um. Wer über Raum und Zeit herrscht, hat die Macht.
Auch über die Sommerzeit.
Ja. Wenn sie Ende März wieder eine Stunde geklaut bekommen, regen sich viele auf, weil sie merken, dass jemand anders über ihre Zeit herrscht. Die Bundesregierung hat ein Zeitgesetz und behält sich vor zu bestimmen, wie viel Uhr es ist.
Und die Forscher erfinden ständig genauere Uhren. Was verbirgt sich hinter dem Bedürfnis, Zeit in den Griff zu bekommen?
Ein Herrschaftsanspruch: Ich möchte die Zeit im Griff haben, um nicht mehr sterblich zu sein.
Aussichtslos.
Trotzdem: In allen Todesanzeigen steht heutzutage eine Ursache, die man hätte vermeiden können. Da steht nicht mehr „Altersschwäche“, denn das wäre bedrohlich.
Wohingegen das Schaltjahr einen geschenkten Tag beschert.
Was heißt geschenkt: Das ist eine Manipulation, ein Eingeständnis, dass man die kosmischen Rhythmen nicht abbilden kann.
Dann sollte der Mensch ein rhythmisches Gerät erfinden.
Ja. Oder die Uhr bleiben lassen. Die bayerischen Bergbauern orientieren sich an den Bergen. Da gibt es den Elf-Uhr-Kogel, den Zwölf-Uhr-Kogel, den Abendkogel. Die Sonne steht nicht jeden Tag gleich, aber wenn sie an einem bestimmten Punkt steht, ist es eben zwölf Uhr. Das ist rhythmisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“