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Christel Burghoff Generation Camper Jetzt spricht J. Gottfried Seume

Spaziergang nach Syrakus“ sagt die Stimme in meinem Ohr. Johann Gottfried Seumes berühmte Wanderung durch Europa ist endlich als Hörbuch erschienen. Am 6. Dezember 1801 brach Seume in Grimma bei Leipzig auf. „Vielleicht der erste und ganz freie Entschluss von einiger Bedeutung . . . “

Gebannt lausche ich den Worten, als würde ich ihn belauschen. Als würde Seume einem engen Freund gegenübersitzen und direkt zu ihm sprechen. Eine lebendige Erzählung. Und milder Spott über die Ängste der Daheimgebliebenen vor einer solchen Reise. Ich kehre mit Seume in böhmische Wirtshäuser ein und fange an, wie er zu frieren. Verkehrslärm um mich herum unterfüttert den Vortrag.

Und ich mache mir Gedanken, die mir beim Lesen nie einfallen würden. Etwa über die Stille, in die Seume hineinging. In diese Welt ohne den Lärm. Ohne Autos, Flugzeuge, Smartphones, ohne Elektrizität. In unverbaute Landschaften. Unvorstellbar. Noch unvorstellbarer: die Kriegssituation. Europa im Durcheinander der napoleonischen Kriege. Ein Europa der Kriegsgräuel, die wir heute, wenn sie uns via YouTube aus anderen Weltgegenden erreichen, als barbarisch und mittelalterlich bezeichnen.

Soldateska auf den Wegen, Banditen und Mörder – auch ein ehemaliger Soldat wie Seume wird Mut gebraucht haben. Er hätte sich, wie einige Jahre zuvor J. W. Goethe, in einer Postkutsche auf den Weg machen können. Aber Seume wollte zu Fuß gehen. Warum? In Wien, in einer abstrusen Szene mit einem völlig fassungslosen Passbeamten, spricht er launig vom Bedürfnis, sich „das Zwerchfell auseinander zu wandeln“.

So ungewöhnlich Seumes Projekt, so ungewöhnlich auch das literarische Ergebnis. „Modern“, werden spätere Genera­tio­nen urteilen. Bald wird Seume Venedig, Rimini, Rom, Neapel besuchen. Und kritisch über ein wunderschönes, aber heruntergekommenes Italien berichten. Am 1. April 1802 erreichte er sein Ziel: das antike Syrakus auf Sizilien.

Bravo, Herr Seume!

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