Zur Lage der Street University

Straßenuniversität Im Freien Museum in der Bülowstraße wird die Arbeit von Giò di SerasStreet University gewürdigt. Der aus Neapel stammende Autodidakt hatte sie 2006 in Kreuzberg gegründet

Junge Teilnehmer der Street University, gemalt von Gründer Giò di Sera Foto: Street University

von Helmut Höge

Die Idee einer „Straßenuniversität“ realisierte der Künstler und Radiomoderator Giò di Sera im Jahr 2006. In der Street University Berlin (SUB) werden auf street-wise Art die Künste, soziokulturelle Bildung und Medienfertigkeiten unterrichtet. Die Studenten bekommen am Ende sogar Diplome. Für seine Straßenuniversität erhielt di Sera 2009 den „Freiherr-vom-Stein-Preis für gesellschaftliche Innovation“. In ihrer Laudatio führten zwei Mitarbeiter der Street University aus, wie der „Autodidakt“ Giò di Sera sich selbst vom Heimkind und „unruhigen Straßenjungen“ in Neapel zum Künstler, Performer, Streetworker und schließlich zum Unipräsidenten entwickelt hatte.

Für sein Projekt entscheidend war „die Wende“ gewesen, die „für viele kein freudiges Ereignis war – besonders in Kreuzberg“, wo bald immer mehr „gescheiterte junge Menschen“ lebten, die das auch so empfanden – und deswegen erst einmal den „Respekt sich selbst gegenüber“ wiederfinden mussten. Ab 1990 wurden nicht nur die industriellen Arbeitsplätze in Ostberlin (später auch in Westberlin) massenhaft „abgewickelt“, für die wenigen verbliebenen Stellen wurden oftmals noch meist besser qualifizierte Ostler in den Westbetrieben eingestellt. Die zwei Mitarbeiter der Street University erwähnten in ihrer Laudatio, dass es um den „Respekt sich selbst gegenüber“ schon 1992 in Giò di Seras „To stay here is my right“-Posse gegangen sei und dass es darum in erweiterter Form auch in der Street University gehe.

Bildungsbewusstseinist vorhanden

Die Studenten ähneln sich hier wie in der schon in den Sechzigern gegründeten „First Street School“ in New York: „Ihre Schulnoten: eher dürftig. Ihr Elternhaus: meist wirtschaftlich schwach auf der Brust, oft geprägt von prekären Einkommensverhältnissen oder Arbeitslosigkeit. Das Bildungsbewusstsein bei ihnen daheim: vorhanden, aber häufig eingetrübt durch einen geringen Informationsstand.“ So steht es in der Einladung zur Ausstellung über „Die Street University als soziale Skulptur“, die noch bis zum Wochenende im „Freien Museum“ Bülowstraße 90 zu sehen ist und so etwas wie eine (multimediale) „Leistungsschau“ dieser Bildungseinrichtung zeigt.

Gedacht war eine Art „Reeducation“ der Jugendlichen in der „Ritze“, wo Drogen zirkulierten

Giò di Sera hatte sich vor etwa 20 Jahren im Kreuzberger Jugendzentrum „Naunynritze“ dasselbe gedacht, was der türkische Dichter Aras Ören mit seinem Langpoem „Was will Ni­yazi in der Naunynstraße?“ schon ausdrücken wollte: Was die Sozialarbeiter nicht schaffen, gelingt vielleicht den Künstlern. Gedacht war eine Art „Reeducation“ der Jugendlichen dort in der „Ritze“, wo mehr und mehr Drogen zirkulierten und es immer krimineller zuging. Giò wollte mit ihnen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus aktiv werden. Er bekam viel Unterstützung für sein „Projekt“: von Anfang an vom Galeristen Michael Wewerka; in der taz begeisterte sich der Kulturredakteur Harald Fricke immer wieder für die „Selbstorganisation mit künstlerischen Mitteln im Bildungswesen für Jugendliche“; Kooperationspartner und Förderer wurden unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung, das Bezirksamt Kreuzberg, die Bundesdruckerei und Daimler Financial Services.

Für die derzeitige Ausstellung wurde der Katalog, in dem die zehnjährige Arbeit der Street University dokumentiert wird, vom Senat befürwortet und dann von der Sparkasse finanziert. 2011, nachdem die „Ritze“ privatisiert und einen „Träger“, die Gesellschaft für Sport und Jugend (GSJ), bekommen hatte, war sie erst einmal laut di Sera „wegen Drogen-Dealereien“ geschlossen worden. Seine Street University war dagegen nicht mehr angekommen und kurz zuvor bereits abgesprungen, das Semestergeld hatte sie dem Berliner Senat zurückgegeben.

Die damals zuständige Jugendstadträtin Monika Herrmann, die heute Bezirksbürgermeisterin ist, erwähnte 2011 gegenüber dem Magazin Tip „verschiedene Eskalationsstufen“. Sie sprach von Jugendlichen, die sich wie Chefs aufführen“, was man in vielen Jugendeinrichtungen in ganz Berlin beobachten könne. Und vom eigentlichen Anlass der Eskalation: „Einem Tag, als ein gemeinsames Kochen mit den Pädagogen auf dem Programm stand: ‚Die Jugendlichen wollten Spaghetti essen und nicht Kartoffeln.‘ Und seien total ausgeflippt.“ Der von der GSJ eingesetzte Leiter der Naunynritze, Dieter Both, sah das etwas anders: „Von wegen Spaghetti.“ Er spricht von einer in Kreuzberg bekannten Gruppe, die „massiv in den Drogenhandel verwickelt ist und mit Anbruch der kälteren Jahreszeit versucht hat, bei uns Unterschlupf zu finden, um im Trockenen ihren Geschäften nachgehen zu können.“ Immerhin: „Die dicken Autos parken Gott sei Dank nicht mehr vor der Naunynritze“, wie Monika Herrmann hinzufügte.

Giò di Sera Foto: Miguel Lopes

Nachdem man die Naunynritze geschlossen hatte, wurde das Haus gründlich renoviert. Das sollte ein Jahr in Anspruch nehmen. Aber die Renovierungsarbeiten dauern noch immer an. Der Street University gab man ein Ausweichquartier. 2015 konnte sie neben anderen Projekten wieder ein Semester anbieten. Giò di Sera kämpft dennoch um die Zukunft des Projekts. Denn inzwischen hat sein ehemaliger externer Kooperationspartner „Gangway“ ebenfalls eine „Street-Schule“ in Berlin initiiert. Das „Me-Too“-Projekt nennt sich „Street-College“. Und jetzt geht es nicht mehr nur um eine baldige Rückkehr der Street University in „die Ritze“, sondern auch um dieGefahr einer Verwechslung mit der neu gegründeten Einrichtung sowie um die leidige „Knete“ (Sponsoren, Fördertöpfe, öffentliche Aufmerksamkeit etc.), die sowieso immer spärlicher fließt.

Das Leben geht aber trotzdem weiter. Einer der Ausstellungsbesucher versuchte Giò di Sera mit einer Parole aus der „Hundert-Blumen-Bewegung“ von Mao Tse-tung aufzumuntern: „Lasst 100 Schulen miteinander wetteifern.“ Aber sowieso galt es erst einmal, ein volles Programm im „Freien Museum“ durchzuziehen, dazu zählte unter anderem die Premiere des Films „Faust in da Street – Was will Goethe in der Naunynstraße?“. Es wurde eine Videodokumentation der Semesterarbeit gezeigt und ein Radio-Workshop veranstaltet, ferner war eine Dokumentation des „TransEurHopeTheatre Projects“ zu sehen. Dazu hatten sich im März 2015 vierzig Jugendliche aus vier Ländern (Spanien, Deutschland, Frankreich, Türkei) im Teatre Clavè der katalanischen Stadt Tordera getroffen, um gemeinsam ein cross-kulturelles Theaterstück auf die Bühne zu bringen. Die Stückentwicklung fand über einen Zeitraum von vier Monaten statt und beinhaltete gemeinsame Treffen in Paris, Berlin und Istanbul. Die Projektidee und -leitung hatte der Leiter des Goethe-Instituts Madrid.

Street-Art wird in der Ausstellung gezeigt, neben Fotos, Collagen, Video- und Soundclips, die im Laufe der Zeit von den Studenten erstellt wurden. Darüber hinaus hängen Porträts von jugendlichen Nutzern der Naunynritze an den Wänden. Neben den Ausstellungsräumen, im sogenannten Projekt­raum, werden „My Street Art Works“ gezeigt: Arbeiten von Giòdi Sera und seinen Wegbegleitern aus den letzten zwanzig Jahren, „die einen unmittelbaren Bezug zur Straßenkultur haben“.

Freies Museum Berlin, Bülowstr. 90. Täglich 12 bis19 Uhr. Die Finissage findet am 13. Februar statt