Droge Realismus

Theater Am Wiener Akademietheater zeigt Andrea Breth mit „Diese Geschichte von Ihnen“ vermeintlich tradiertes Schauspielertheater als sein eigenes Ausstellungsstück

Der gewalttätige Polizist Johnson (Nicholas Ofczarek) und seine Frau Maureen (Andrea Clausen) Foto: Bernd Uhlig

von Uwe Mattheiß

Die Geschichte von „Diese Geschichte von Ihnen“ ist schnell erzählt: In Übertretung seiner Befugnisse verhört ein Polizist einen mutmaßlichen Missbrauchstäter ohne Wissen der Kollegen, steigert seinen Verdacht zur fixen Idee und schlägt ihn tot. Seine Frau würde ihn gerne verstehen, die Kollegen würden es gerne vertuschen. Ein Reenactment der Tat im Schlussakt funktioniert wie die Beweisaufnahme in einer Hauptverhandlung. Sie kann fast alles erklären, nur nicht den entscheidenden Schritt zur Übertretung der Norm.

Man erinnert sich im Theater an die Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer: Angenommen, Sie sind, unmittelbar nachdem Sie einen Kinderschänder auf frischer Tat überführt haben, mit dem Täter alleine und haben eine Waffe. Können Sie mit Sicherheit sagen, dass Sie nicht abdrücken? Die richtige Antwort lautet: Ich bin mir nicht sicher, aber ich hätte danach trotzdem Gewissensbisse, darum vermeide ich es, in eine solche Situation zu kommen.

Damit Polizeibeamte nicht in eine solche Situation kommen, arbeiten sie in Teams und werden bei besonders belastenden Arbeitsinhalten mit Supervisionsangeboten betreut. Ein leicht ranziges Thesenstück also, auch wenn dieser John Hopkins mal einen James-Bond-Film, „Thunderball“ (1965), geschrieben hat. Man darf hinter der Stoffauswahl von Andrea Breth fürs Wiener Akademietheater konzeptuelle Überlegungen vermuten und wird schnell fündig: Die Spielanordnung, die sie gemeinsam mit August Diehl, Nicholas Ofczarek, Andrea Clausen und Roland Koch zwischen grob verspachtelte Gipskartonplatten setzt (Bühne: Martin Zehetgruber), ist über die Aufführung hinaus ein luzider Beitrag zur gegenwärtigen Realismusdebatte im Theater.

Wie viel Wirklichkeitsüberschuss kann allein die Intuition von SchauspielerInnen hervorrufen, ohne dass sie sich auf Bilder, Referenzpunkte und Erzählstrukturen stützt, die die Behauptung untermauern, hier werde die äußere Welt abgebildet? Das wäre die radikale Gegenposition zu einem Debattenmainstream, der einer Erschließung von Sinn durch die Imagination des Theaters misstraut und versucht, es durch die Rückbindung an Tatsachen zu erden.

Der Empirismus am Theater hat einen Haken. Dokumentarische Textproduktion, der Aufruf von ZeugInnen, die mediale oder szenische Integration von Wirklichkeitspartikeln sind, einmal auf die Bühne geworfen, nicht mehr harte Fakten oder verlässliche Daten, sondern Theatermaterial wie alles andere auch.

Die Kritik der Einbildungskraft des Theaters kann nur immanent erfolgen. Andrea Breth macht hierzu ein erstaunliches Angebot. Sie stellt vermeintlich traditionelles Schauspielertheater als sein eigenes Ausstellungsstück auf die Bühne. Die Droge Realismus, unverschnitten genossen, evoziert nun ganz andere Bilder, als sie die kulturindustriell vorformatierte Wahrnehmung für „realistisch“ hält. Breth inszeniert „textgläubig“, aber ohne die Metaphysik der Erzählung oder des Erzählten.

Der Täter-Polizist (Ofczarek) kommt nach Hause, betrinkt sich, randaliert vor der horizontlosen Pressspanplatten-Schrankwand, deren Anblick allein die olfaktorische Wahrnehmung von Formaldehyd und dem Mief ungelebten Lebens hervorruft. Er jammert, beichtet und schlägt seine Ehefrau (Clausen). Spricht man der Ehe an sich einen moralischen Wert zu, leidet sie tragisch. So bleibt stattdessen nur der Eindruck von der Obszönität häuslicher Gewalt, der sich mehr noch als in den Schlägen selbst in der Latenz dazwischen einstellt.

Ofczareks Spiel mit dem Blut-, Alkohol- und Testosteronhochdruck gerät zum unverhofften Kommentar zur Köln-Paranoia und macht die These plötzlich erfahrbar, dass Strafverfolgung Delinquenz nicht nur bekämpft, sondern vielmehr erst erzeugt. Auf welcher Seite des Spiegels Täter und Opfer stehen, ist kaum mehr auszumachen, auch nicht im Zwischenakt mit dem tatverdächtigen Polizisten und dem internen Ermittler (Koch).

Hier hat man den Eindruck, man sei in einer Therapiegruppe von Polizisten mit Burn-out gelandet. Das ist kein Fehler, das soll so sein. Neben dem Sonntagskrimi gehören szenisch gestützte Gruppenpsychotherapien zu den Feldern, auf die sich das Dramatische aus dem Theater geflüchtet hat. Das Resultat ist ein widersprüchlichen Erleben von Katharsis, je stärker die vierte Wand behauptet wird, desto durchlässiger wird sie.

Der Schlussakt mit August Diehl und Nicholas Ofczarek gerät zu einem der verstörendsten Versuche des Theaters über die Obszönität der Folter seit Peter Zadeks Inszenierung von Sarah Kanes „Gesäubert“ Ende der 1990er Jahre. Fern von fast allen Splattermomenten speist sich seine Wirkung allein durch die Andeutung des Wissens der Schauspieler, wie man Menschen wirklich quälen kann.

Diehls Figur des Tatverdächtigen wird zum Wechselbalg der Figurenerfindung: Mal Joker, mal Jesus, unter Schlägen wimmernd und unerwartet hohnlachend, spielt er dem dissoziierenden Bewusstsein seines Peinigers den ganz persönlichen David-Lynch-Film. Seit ihrer Arbeit an Kleists „Prinz von Homburg“ haben Andrea Breth und August Diehl unser Wissen über die Arbeit des Schauspielers erweitert. Die Geschichte des Theaters ist noch nicht zu Ende.