Zum Stand der deutschen Willkommenskultur nach den SilvesterÜbergriffen von Köln: Abstand gewinnen
Zu Hause bei Fremden
von Miguel Szymanski
Eine meiner ersten Erfahrungen in Deutschland: Vor meiner neuen Grundschule laufe ich durch eine Menschenmenge – sie schien mir damals riesig – und halte die Hände vor das Gesicht, um nicht von Schlägen getroffen zu werden. Ich werde angeschrien, aber verstehe die Worte nicht, weil ich erst wenige Wochen zuvor aus dem Ausland gekommen bin: ein kleiner, braungebrannter oder dunkelhäutiger – je nach Perspektive – Südeuropäer.
Das war Mitte der 70er Jahre in der deutschen Großstadt, in der ich später das Abitur gemacht habe und erstmals zur Uni ging. Als Neunjähriger war ich damals der einzige „Ausländer“ in meiner Schulklasse. Ich konnte die Aggressionen vor der Schule nicht verstehen, weil ich mich auch in Abwesenheit der Sprache schon als Deutscher fühlte und stolz auf meinen nagelneuen Kinderausweis mit dem schönen Adler war.
Das Problem der anderen war nicht, dass es zu viele Ausländer gab. Mein Problem war, dass zu viele dieser asozialen Deutschen mich angriffen, weil ich etwas anders aussah und kein Deutsch sprach. Monatelang musste ich rennen oder unbemerkt über den Zaun und Nebeneingänge die Schule verlassen. Um mich zu schützen, musste ich deutscher werden als diese Deutschen. Anders als andere Einwanderer und Ausländer konnte ich es: Wir hatten deutsche Bücher zu Hause, wir hatten Nachhilfestunden und wir hatten einen deutschen Vater.
Meine Angreifer waren Kinder und Jugendliche. Sie marschieren heute wahrscheinlich im Geist oder persönlich bei Pegida und Co mit. Oder klatschen Beifall, wenn hundertfach im Land Flüchtlingsheime angezündet werden. Oder sitzen zu Hause abends mit einer Bierdose vor dem Fernseher, während ihre Frauen in der Küche sind, und regen sich über die Ausländer auf, die aus Deutschland ein rückständiges Land machen wollen. Gewalt hat keinen Reisepass. Nicht die gegen Kinder, auch nicht die gegen Frauen.
Herr Matussek hat sich bezüglich der Ursache und der Anzahl geirrt, als er in einem Anfall typisch deutschen Tresenhumors auf Facebook schrieb: „Ich schätze mal, der Terror von Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen und eine Viertelmillion unregistrierter junger islamischer Männer im Lande in eine ganz neue frische Richtung bewegen.“ Aber was die Wirkung angeht, war der Mann ein Visionär: Damit die „frische Richtung” menschenverachtender Thesen in Deutschland auf einen Schlag salonfähig wird, bedarf es keiner Terroranschläge auf deutschem Boden. Gleichgesinnte kennen sich. Nach langen Jahren der Prügelattacken und Gewalt gegen Ausländer, gegen Flüchtlinge, gegen ihre Kinder, Häuser und Heime reichen die Exzesse einer angetrunkenen Horde von Ausländern in einer Nacht.
Die kriminellen Ausländer vor den Bahnhöfen sind nicht repräsentativ für das Ausland. Aber die Erfahrung sagt mir, dass die gewalttätigen Kinder vor meiner Schule und die Pegida-Anhänger gestern wie heute für die dunkelsten der deutschen Traditionen stehen.
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