Prekär ist normal

Arbeit Vier von fünf Berlinern arbeiten Teilzeit oder im Minijob, mit befristeten Verträgen oder mit Werksvertrag. Sie verdienen so wenig, dass sie kaum Zukunft und Familie planen können. Der Deutsche Gewerkschaftsbund findet: ein überraschender Rückschritt

Viele wissenschaftliche Mitarbeiter an den Hochschulen sind befristet angestellt Foto: Illustration: Eléonore Roedel

von Susanne Memarnia

Im vorigen Jahrhundert, in den goldenen Zeiten von Vollbeschäftigung, gab es das Wort „Normalarbeitsverhältnis“: wer angestellt war, war dies in der Regel unbefristet, in Vollzeit, mit Sozialversicherung, hatte bezahlten Urlaub, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Heute heißt „normal“ für vier von zehn BerlinerInnen etwas anderes: Sie arbeiten Teilzeit oder im Minijob, mit befristeten Verträgen oder mit Werksvertrag. Berlin sei die „Stadt der prekären Arbeit“ geworden, stellte Doro Zinke, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Berlin-Brandenburg am Dienstag auf einer Konferenz zum Thema fest. „Wir haben nicht gedacht, dass es so einen Rückschritt geben kann.“ Man müsse nun wohl wieder ähnliche Kämpfe führen wie in der Vergangenheit.

Seit den 1990er Jahren, besonders aber seit den Hartz-IV-Reformen, ist der Anteil der atypischen Beschäftigungsverhältnisse bundesweit um 72 Prozent gestiegen, sagt Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation der Uni Duisburg-Essen. Es gebe 63 Prozent mehr Solo-Selbständige, fast 50 Prozent mehr Teilzeit-Stellen und 12 Prozent weniger Vollzeitstellen. In Berlin nutzten 80 Prozent aller Betriebe prekäre Beschäftigung, so Weinkopf – und 55 Prozent der Berliner Frauen arbeiteten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Inzwischen seien hier 47 Prozent der Neueineinstellungen und 11 Prozent aller Arbeitsverträge befristet. Besonders eklatant sei auch das Wachstum bei den Solo-Selbstständigen: 218.000 habe es 2012 in der Hauptstadt gegeben, 35 Prozent mehr als 2005. (sum)

Denn genau das ist das Problem für viele atypisch oder prekär Beschäftigte, wie Betriebsräte und Betroffene auf der Konferenz berichteten (siehe Protokolle): Sie verdienen zu wenig, wissen nicht, wie sie Zukunft und Familie planen sollen – und sind absehbar von Altersarmut betroffen. Auch für den Staat sei die Entwicklung wenig erfreulich, erklärte Claudia Weinkopf, stellvertretende Direktorin des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen: Zum einen gebe es weniger Steuereinnahmen, zum anderen hohe Kosten für die Aufstockung von geringen Einkommen und Renten.Eines wurde auf der Konferenz auch deutlich: Nicht jede atypische Beschäftigung ist prekär. So betonte Gunter Haake, Verdi-Referent für Selbstständige, es gebe gerade in Berlin viele Solo-Selbständige, nach seiner Schätzung sind rund 40 Prozent von ihnen prekär. Bei den Teilzeitbeschäftigten treffe der Begriff „prekär“ ebenfalls nicht immer, sagte Weinkopf. So könnten manche mit 20 oder mehr Wochenstunden bei einem guten Stundenlohn wohl von ihrer Arbeit leben. Grundsätzlich seien die Stundenlöhne in „atypischen“ Beschäftigungsverhältnissen jedoch niedriger als in „Normalarbeitsverhältnissen“ – und bei 8,50 Euro Mindestlohn verdiene man bei 20 Wochenstunden nur 773 Euro. Zudem würden viele Teilzeitarbeitende gern mehr arbeiten.

Auch in der Reinigungsbranche gibt es zunehmend Minijobs und Teilzeit Illustration: Eléonore Roedel

Eine Änderung des Teilzeitbefristungsgesetzes ist auch das, was den Betriebsräten auf der Konferenz als erste Forderung an die Politik einfiel. Das Gesetz erlaubt nicht nur die Befristung von Arbeitsverträgen unter bestimmten Voraussetzungen, es legt auch fest, dass es kein Recht auf Rückkehr in die Vollzeit gibt, wenn man einmal – etwa zur Kindererziehung – die Arbeit reduziert hat. Einig waren sich die Betriebsräte mit Wissenschaftlerin Weinkopf auch, dass Minijobs – zumindest für Menschen vor dem Rentenalter – abgeschafft gehören. In Richtung Senat kam mehrmals die Forderung, dass das Land dort, wo es selbst Auftraggeber ist – etwa bei der Charité oder in der Bildung –, für eine Gleichbehandlung aller Beschäftigten sorgen muss. Denn bislang sei es so, erzählte Linda Guzzetti, Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten: „Im Bildungsbereich wird das Prekariat mit öffentlichen Geldern organisiert.“

Mit welchen konkreten Forderungen an die Politik die Gewerkschaften ins Wahljahr gehen, im September wird das Berliner Abgeordnetenhaus neu gewählt, will der DGB auf einer zweiten Konferenz bis zum Sommer klären.

Kati Ziemer,
Charité CFM:

„2006 wurde die CFM gegründet. Meine KollegInnen haben den Slogan geprägt: 10 Jahre Tarifflucht sind genug! Es war damals politischer Wille unter Rot-Rot, Kosten zu sparen. Auch die Charité, ein öffentliches Haus, stand unter Finanzierungsdruck. Es wurde Roland Berger in die Spur geschickt, 170 Projekte gab es – und die CFM ist das erste und größte und das ‚Erfolgsmodell‘.

Ausgelagert sind Dienstleistungen, die patientenfern sind, also Krankentransport, Steri, Archivierung von Akten, Reinigung, Haustechnik, Sicherheitsdienste. Beschäftigt sind 2.800 Menschen, die Zahl ist steigend. Damals sind aus der Charité 1.000 „Gestellte“ rübergegangen zur CFM. Für die hatten wir immerhin einen Gestellungsvertrag erkämpft, der uns garantiert, dass wir weiter bei der Charité beschäftigt sind und auch deren Tarifvertrag weiter gilt. Aber diese Gruppe der „Gestellten“ ist relativ alt, wir sterben aus und werden nach und nach durch tarifvertragslose CFM-Angestellte ersetzt. 2011 haben wir für einen Tarifvertrag gestreikt, leider erfolglos, aber immerhin zahlt man schon seit damals 8,50 Mindestlohn. Das hat auch nicht zu weniger Beschäftigung geführt, sondern zu Zulauf von Kollegen aus dem Sicherheitsgewerbe, weil das damals die Firma mit dem besten Lohn in Berlin und Brandenburg war in der Sicherheitsbranche. Tarifverträge werden in der CFM nur in Anlehnung gezahlt. Alles, was allgemeinverbindlich ist und gezahlt werden muss, tun sie – aber mehr auch nicht.

Wir haben in der Reinigung den größten Anteil an teilzeitbeschäftigten Frauen, zwischen 20 und 25 Stunden ist keine Seltenheit – und dann noch verteilt auf sechs Tage in der Woche. Das möchte die CFM so, weil der Dienstgeber, die Charité, das so möchte. Protokoll: SUM

Norbert Riediger,
Reinigungsbranche:

„Die Probleme bei uns in der Branche sind Minijobs, Teilzeit und Arbeitsverdichtung. Seit 40 Jahren bin ich in einer Branche tätig, die jetzt zu den prekären Branchen zählt. Das ging schleichend, früher war es nicht prekär, da war es zum Teil Goldstaub. Früher, in den 70er Jahren, kamen die teilzeitbeschäftigten Frauen zu uns in die Reinigungsbranche als Quereinsteiger und wollten was dazu verdienen für den Urlaub und so. Die hatten nicht vor, fest zu arbeiten. Aber diese Tätigkeiten dienen jetzt zum Ernähren einer Familie! Die Arbeit wird auch immer mehr von Männern gemacht. Das Problem: Teilzeitbeschäftigte haben bei uns oft Verträge von 3,5 Stunden pro Tag.

Wenn jemand krank wird oder Urlaub hat, und der Chef fragt, arbeiten die Kollegen natürlich erst Mal gerne länger. Aber es ist eben nicht fest und die Arbeitnehmer haben keine Sicherheit einen Standard aufzubauen, der zum Leben reicht. Und die Arbeitgeber können flexibel reagieren und sagen, so morgen kommst du nicht mehr 5,5 Stunden, sondern nur noch nach Vertrag. Aber die Gerichte urteilen so, dass du schon zig Jahre gleichbleibend länger gearbeitet haben musst, bevor dein Arbeitsvertrag angepasst wird. Junge Familien haben auch bei den Arbeitszeiten in der Branche Probleme, die Kinder zu versorgen. Es gibt Teilzeitbeschäftigte, die müssen morgens von fünf bis acht Uhr arbeiten und nachmittags nochmal raus um 16 oder 19 Uhr. Die haben zweimal den Weg und zweimal das Fahrgeld – und können noch dazu ihre Kinder nicht ordentlich betreuen.

Und bei den Minijobs hört man Sachen: Manche Beschäftigten müssen selbst Vertretungen organisieren, wenn sie in Urlaub wollen, manche müssen selbst Reinigungsmittel auf eigene Kosten kaufen. Das ist richtig prekär.“ Protokoll: SUM

Linda Guzzetti,
Lehrbeauftragte:

„Honorarverträge und Lehraufträge sind seit Jahrzehnten die Regel in einer Reihe von Bildungseinrichtungen, der Anteil reicht von 30 bis 90 Prozent. Das Phänomen hat in den letzten 15 Jahren zugenommen. An den Hochschulen kommt hinzu, dass bei wissenschaftlichen Mitarbeitern inzwischen neun von zehn Stellen befristet sind.

Das Problem bei den Honorarlehrkräften: Es werden nur die unterrichteten Stunden bezahlt – wir bekommen pro Unterrichtseinheit zwischen 15 und 39 Euro an einigen Hochschulen. Das klingt zwar nicht schlecht, aber wir bekommen nichts für das Vorbereiten, Nachbereiten, Beraten, Verwaltungsarbeit, Korrekturen. Die Kosten der Sozialversicherung müssen Honorarkräfte auch selbst bezahlen – nur die an Volks- und Musikschulen bekommen vom Land den Arbeitgeberanteil bezahlt. Aber auch wenn man das mitrechnet, ist die Vergütung weit unter der einer angestellten Lehrkraft. Außerdem sind wir extrem flexibel. Wir bekommen Aufträge für ein Semester.

Fehlt die Nachfrage, gibt es keinen Vertrag mehr. Die Auswirkungen: viele unterrichten mehr als normal, was zu schweren körperlichen und psychischen Belastungen führt, viele bezahlen die Beiträge zu Rente und Krankenversicherung nicht. Und viele werden nur eine Rente von 500, 600 Euro haben. Was die Politik tun kann? Sie ist ja selbst der Auftraggeber. Ein Beispiel: Die DozentInnen der Musikschulen und Volkshochschulen kämpfen schon lang für Tarifverträge. Der Senat will nicht verhandeln.“ Protokoll: SUM

Attila Kecskés,
McDonald’s:

„Wir haben ständig befristete Verträge, nach zwei Jahren werden die Leute nach Hause geschickt. Dadurch haben sie keine Planbarkeit im Leben. Wenn in einem halben Jahr mein Vertrag endet: Wann plane ich Urlaub? Wie nehme ich ein Darlehen auf, weil ich etwas für die Wohnung kaufen will? All das bleibt den Leuten verwehrt.

Das andere Problem ist, dass wir sehr, sehr viel Teilzeit arbeiten. Bei uns werden Leute eingestellt mit Verträgen von 108 Stunden pro Monat. Bei einem Stundenlohn von 8.51 Euro – unterste Lohngruppe – liegt man dann bei 900 Euro brutto. Da braucht man über Rentenvorsorge oder so gar nicht nachzudenken. Auch stellt sich die Frage nach der Familiengründung: Wer schafft das bei zwei Jahren Befristung, daran zu denken? Zumal wir auch noch im Schichtdienst arbeiten, oft sechs, sieben Tage die Woche. Die Leute arbeiten auch trotz 108-Stunden-Verträgen um die 140, 150 Stunden im Monat. Der Tarifvertrag lässt das zu: Nach drei Monaten Mehrarbeit kann man zwar seinen Vertrag anpassen lassen. Aber wer nimmt diese Option wahr? Auch bezahlen viele Lizenznehmer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, das Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht nach der Zahl der tatsächlich gearbeiteten Stunden, sondern nach dem, was im Vertrag steht.

Wenn man nun sagt: Schafft doch einfach mal betriebliche Mitbestimmung. Dann ist doch die Frage: mit wem? Wer traut sich bei zwei Jahren Befristung über betriebliche Mitbestimmung nachzudenken? Keiner. Protokoll: SUM