Eric Bonse über das EU-Verfahren gegen Polen
: Oettinger hat recht

Die EU wartet zu lange. Das polnische Verfassungsgericht ist kastriert, die Medien geknebelt

Man stelle sich einmal vor, die EU wäre in den letzten Jahren entschieden gegen Übergriffe auf den Rechtsstaat und die Meinungsfreiheit vorgegangen. Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Beitrittskandidat Türkei wären zur Ordnung gerufen worden. In Ungarn hätte es auch Strafen gegeben, wie das Europaparlament sie forderte.

Dann würde es Brüssel heute viel leichter fallen, den schleichenden Staatsstreich in Polen zu ahnden. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker könnte die neue polnische Rechtsregierung zum Rapport vorladen und ihr das kleine Einmaleins der europäischen Werte erklären. Bei dieser Gelegenheit würden sicher auch die Worte „Solidarität“ und „Flüchtlingskrise“ fallen.

Tja, das wäre eine andere EU. Eine Wertegemeinschaft, wie sie gern beschworen, in Wahrheit aber nicht praktiziert wird. Die real existierende EU wartet so lange, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Das polnische Verfassungsgericht ist kastriert, die polnischen Medien sind geknebelt. Nun will die EU über diese klaren Verstöße einen „verstärkten Dialog“ aufnehmen.

Und dieser Dialog soll auch nicht etwa sofort, sondern erst nach einer Aussprache in der EU-Kommission beginnen – in einer Woche. Verschleppung nennt man so etwas. Mit Ergebnissen ist – wenn überhaupt – erst in einigen Monaten zu rechnen. Dass am Ende eine Strafe steht, ist erfahrungsgemäß unwahrscheinlich.

Damit würde sich aber nicht nur Polen, sondern ganz Europa von Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit verabschieden. Es wäre ein weiterer Freibrief, wie sie Juncker schon dem ungarischen Premier Viktor Orbán und dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan ausgestellt hat. So weit darf es nicht kommen. Wir müssen jetzt Druck auf Brüssel machen.

Der EU-Kommissar Günther Oettinger hat das schon erkannt. Er will Polen „unter Aufsicht“ stellen. Ausnahmsweise hat der CDU-Mann recht.

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