„Arbeit muss wertvoll sein“

Serie Arbeit (3) Als er arbeitslos wurde, empfand er die viele Zeit, die er zur Verfügung hatte, zunächst als leere Zeit. Dann suchte er sich Dinge, wo er sich engagieren kann, die sich für ihn sinnvoll anfühlen. Ein Gespräch mit dem Langzeitarbeitslosen Philip Butland

Begleitet beispielsweise Flüchtlinge im Alltag: Philip Butland Foto: Dagmar Morath

Interview Anna Klöpper

Es ist vier Uhr am Nachmittag. Auf der Pankstraße im Wedding wird der Rückstau vor den Ampeln länger: die tägliche Rushhour zum Feierabend beginnt. Vor dem Café Pförtner in der benachbarten Uferstraße ist es ruhig. Hier, im Kreativquartier rund um die ehemaligen BVG-Werkstätten, in denen jetzt Künstler und Start-upper an Ideen basteln, die manchmal Geld bringen und oft auch nicht, ist es okay, wenn man sich zwei Stunden lang an einem Glas Gratis-Leitungswasser festhält. Ein guter Ort für ein Gespräch über den Wert des Müßiggangs, wenn das Negativ dazu fehlt: Arbeit. Ein Treffen mit Philip Butland, gelernter technischer Redakteur, arbeitslos seit sechs Jahren. Zehn Minuten nach dem verabredeten Termin kommt ein klein gewachsener Mann herein.

Philip Butland: Ah, sorry. Bin gerade glatt am Café vorbeigelaufen.

taz: Macht nichts. Wir haben ja Zeit, oder?

Philip Butland, das Lachen eine Spur zu laut für das kleine Café, lässt sich auf eine Bank am Fenster fallen. Möchte er noch schnell einen Kaffee bestellen? Nein, danke. Vielleicht ein Glas Wasser? Ach nein.

Sie wirken gerade ein wenig gehetzt. Anstrengenden Tag gehabt?

Na ja, eigentlich ganz okay. Um zehn Uhr aufgestanden, dann vor den Rechner gesetzt und ein paar Mails geschrieben, jetzt hierher. Gleich habe ich noch einen Termin in Kreuzberg.

Sie sind seit sechs Jahren arbeitslos gemeldet. Mit Ihrem vollen Terminkalender – es hat ja auch ein bisschen gebraucht, bis wir diesen Termin heute gefunden haben – erfüllen Sie eher nicht das Klischee des Arbeitslosen, der die Füße vorm Fernseher hochlegt.

Tatsächlich habe ich viel Zeit zur freien Verfügung. Das ist aber etwas anders als Freizeit. Kurze Zeit nachdem ich arbeitslos wurde, habe ich diese viele freie Zeit vor allem als leere Zeit empfunden. Das fühlte sich nicht gut an. Ich habe mir dann schnell Dinge gesucht, wo ich mich engagieren kann, die sich sinnvoll anfühlen.

Weil das Gegenüber zu Freizeit Arbeit heißt – Freizeit hat man also nur, wenn man auch Arbeit hat?

Ja, so ist es wohl. Ich habe mir, nachdem ich arbeitslos wurde, Jobs im ehrenamtlichen Bereich gesucht. Ich begleite Flüchtlinge im Alltag und zu Behördenterminen. Einmal im Monat schreibe ich nun Filmrezensionen für eine linke Webseite, marx21.de. Dafür bekomme ich kein Geld, aber ich kann kostenlos ins Kino gehen. Das ist meine Arbeit. Oh, und diese Jobcenter-Sachen: Fortbildungen, Bewerbungen schreiben.

Wie häufig schreiben Sie Bewerbungen?

Manchmal bis zu zehn am Tag, manchmal eine Woche lang gar keine. Ich bewerbe mich nur noch, wenn ich glaube, dass es einigermaßen passen könnte. Callcenter-Bewerbungen zum Beispiel, das habe ich früher öfter gemacht, aber die Arbeit dort liegt mir nicht.

Würden Sie sagen, dass Sie sich den Tag in Arbeit und Feierabend aufteilen? Beziehungsweise die Woche in Werktag und Wochenende?

Ich könnte jetzt nicht sagen, ich arbeite so und so viele Stunden am Tag, und dann mache ich um fünf Uhr Feierabend. Aber ich achte darauf, dass ich mir nach einigen Tagen, in denen ich viel zu tun hatte, auch mal ein, zwei Tage freinehme. Auch wenn mein Wochenende dann nicht unbedingt am Samstag und Sonntag stattfindet. Ich glaube, das ist sehr wichtig, dass man sich diese Strukturen erhält.

Weil die freie Zeit sonst ihren Wert verliert?

Dass wir in einer „Arbeitsgesellschaft“ leben, in der sich viele Mitglieder maßgeblich mit Erwerbsarbeit identifizieren und darin den Lebenssinn finden, ist ein alter Hut. Aber stimmt das noch? Was bedeutet Arbeit in einer Gesellschaft, die immer weniger Menschen braucht, um immer mehr Waren zu produzieren und neue Dienstleistungen zu erfinden? Was heißt überhaupt Arbeit, wenn Familienarbeit immer wichtiger wird? Wird Arbeit mehr geschätzt, wenn sie dank Mindestlohn besser bezahlt wird – oder weniger, weil Ehrenarbeit und Freiwilligenarbeit inzwischen die neuen Sinnstifter sind? Und wenn nun die Arbeitslosenquote in Berlin mit rund 10 Prozent so niedrig ist wie selten: Was für Jobs sind es, die der „Job-Motor Berlin“ anzieht? Und ist es wahr, dass wenigstens Handel und Handwerk über die vielen Flüchtlinge froh sind – weil sie händeringend Arbeitskräfte suchen?

Jedenfalls muss man sich paradoxerweise weniger um sie bemühen, wenn man einen Job hat. Freizeit ist einfach immer dann, wenn man nicht im Büro ist. Jetzt muss ich mich selbst darum bemühen, sinnvoll tätig zu sein und mir also auch meine Freizeit zu verdienen – obwohl ich natürlich auch genauso gut jeden Tag im Bett bleiben könnte. Dieses Nicht-müssen-aber-Wollen, das kostet auch manchmal Kraft.

Wie belohnen Sie sich in Ihrer verdienten Freizeit?

Ich gehe gern durch die Parks spazieren. Oder in Galerien, die für Berlin-Pass-Inhaber [ein Rabattpass für Sozialhilfeempfänger, Anm. d. Red.] kostenlos sind. Im Martin-Gropius-Bau haben sie meistens gute Ausstellungen. Oder ich schaue Serien. Wenn sie gut sind, ziehe ich mir auch mal einen Tag lang eine DVD nach der anderen rein.

Zu Hause Filme gucken, spazieren gehen: Das sind Dinge, die nichts kosten. Sie bestellen hier im Café nichts.

Als ich noch einen Job hatte, hatte ich die Wahl, wie ich mich erholen konnte. Ich konnte auf Konzerte gehen. Oder auch einfach mal, na ja, ich sag immer: Einkaufstherapie machen. Ich bin zum Beispiel immer gern in Plattenläden gegangen und konnte da stundenlang vor den Regalen stehen. Aber das macht eben nur Spaß, wenn man sich am Ende auch eine Platte kaufen kann.

Man hat mehr Freizeit – und ist gleichzeitig begrenzter.

Ja. Ich verspreche zum Beispiel einigen Freunden, die ich noch in Süddeutschland und in England habe, seit Jahren, dass ich sie mal besuchen komme. Zeit hätte ich, aber finanziell reicht es eben nicht. Ich kann es mir auch nicht mehr oft leisten, in die Kneipe zu gehen.

Freunde zu treffen ist schwieriger geworden?

Ich treffe sie seltener, und anders. Ich telefoniere viel über Skype und facebooke, vor allem mit meinen Freunden im Ausland, das kostet nichts.

Der Mensch ist, was er tut, hat mal ein berühmter Philosoph gesagt. Tatsächlich kommt kein Smalltalk ohne die „Und was machst du so?“-Frage aus. Wir definieren uns und unser Gegenüber ein gutes Stück über den Job. Was, wenn da eine Leerstelle ist?

Da ist ja gar keine Leerstelle. Jedenfalls empfinde ich das nicht so. Ich mache für mich den Wert von Arbeit inzwischen nicht mehr von einem finanziellen Gegenwert abhängig. Aber Arbeit muss wertvoll sein – und das ist sie, wenn ich einen Sinn in ihr sehe. Meine Eltern sind Methodisten, sie haben mich mit einer sehr protestantischen Arbeitsethik erzogen: Das Leben muss Wert haben – und das ist wiederum mit Erwerbsarbeit verbunden. Ich glaube aber inzwischen, dass meine ehrenamtliche Arbeit in der Flüchtlingshilfe wertvoller ist als manche der bezahlten Jobs, die ich zuvor gemacht habe. In dem Sinne glaube ich auch, dass ich mein Arbeitslosengeld ehrlich verdient habe.

Philip Butland

49, kommt aus Bradford in England. Studium der Philosophie und Literatur. Mitte der 1990er Jahre geht er nach Deutschland, zunächst nach Böblingen. Er arbeitet dort als technischer Redakteur für Benutzerhandbücher und Fachtexte. 2005 geht er nach Berlin, wo er ein Jobangebot bei einer Telekommunikationsfirma annimmt. Vier Jahre später verliert er bei der zweiten von mehreren Entlassungsrunden seinen Job. Seitdem ist er arbeitslos.

In dem kleinen Café stehen die Tische eng beisammen. Die kleine Dreiergruppe nebenan hat schon während der letzten halben Stunde immer wieder unauffällig gelauscht und in Butlands Richtung gelinst.

Sie reden sehr offen über Ihre Arbeitslosigkeit. Fällt Ihnen das schwer, gerade an einem so öffentlichen Ort wie hier?

Nein, überhaupt nicht. Es hat mich nie so sehr interessiert, was andere Leute denken. Ich weiß, dass sich für die meisten Menschen der Wert einer Arbeit immer noch in Lohn ausdrückt. Ich denke da ­anders.

Jetzt ist gerade die Zeit der Fest- und Feiertage. Sind diese entwertet, wenn man theoretisch jeden Montag zum Sonntag machen kann?

Die Feiertage bleiben schon etwas Besonderes, gerade Weihnachten und Silvester. Sie strukturieren das Jahr. Weihnachten bedeutet auch Familie, meine Eltern, die in England leben. Aber ja, es fehlt auch ein gewisser Mehrwert, den diese Feiertage für mich früher ganz automatisch hatten. Dieses Gefühl: Wow, ich muss nicht arbeiten heute, und meine Freunde haben auch frei.

Draußen ist es dunkel geworden. Butland schaut auf die Uhr. Ah, sagt er. „Zum Glück noch ein wenig Zeit, dann brauch ich mich nicht zu beeilen.“ Der Termin in Kreuzberg, ein Weihnachtsfest der Linkspartei, bei der er sich ebenfalls engagiert. Er verabschiedet sich und verschwindet im Feierabendverkehr. Sein eigener Feierabend ist dann irgendwann später.