Die Wirklichkeit ist grotesker

2015 Es war ein Jahr, in dem das latente Bedrohungsgefühl wuchs. Es war auch ein Jahr, in dem Berlin für Satiriker undankbares Pflaster war – in dem jede Pointe von der Realität eingeholt wurde. Ein Jahresrückblick aus der Sicht eines Lesebühnen-Autors

Es ist nicht leicht, in Berlin den Humor zu bewahren Foto: Ben de Biel

von Heiko Werning

Wir Brauseboys spielten gerade unser Programm im Comedyclub Kookaburra, als Terroristen in Paris die Redakteure der Satirezeitschrift Charlie Hebdo erschossen und damit den blutigen Auftakt für 2015 gaben. Je näher einem der Wahnsinn persönlich auf den Pelz rückt, desto ungemütlicher wird es ja. Wir fühlten uns jedenfalls unangenehm persönlich betroffen, und wenn die Gefahr für Berliner Humoristen sicherlich nicht gestiegen ist und wenn auch alle Satiriker des Landes mit Inbrunst beteuern, ihre Arbeit auf gar keinen Fall beeinflussen zu lassen von religiösen Fanatikern, so waren wir insgeheim doch ganz froh, dass wir unsere erste Plakat­idee wieder verworfen hatten. Wir hatten überlegt, uns als alberne IS-Zausel zu kostümieren.

Klar, hätte niemanden interessiert. Wahrscheinlich. Aber das hatte man einen Monat später in Kopenhagen auch gedacht, wo man über Satire nach Paris diskutieren wollte, auf einer kleinen Veranstaltung, die durchaus vergleichbar mit unserer Beteiligung in Berlin hätte stattfinden können, in einem Kulturcafé, das einen sehr an Orte wie das taz Café erinnert. Trotz dieser geballten Bedeutungslosigkeit stand der Mann mit der Wumme plötzlich vor der Tür und ballerte los.

Nur ein Zufall

In den ersten Wochen des Jahres standen viele Redaktionen unter Polizeischutz, auch die taz in der Rudi-Dutschke-Straße. Kein schönes Gefühl. Nach einer Weile waren die Polizisten wieder verschwunden, obwohl sich an der Lage nichts geändert hatte. Auch kein schönes Gefühl. Als wir im Oktober mit der taz Wahrheit die Post-Charlie-Hebdo-Anthologie „Ist das jetzt Satire oder was?“ im taz Café vorstellten, waren weit und breit weder Polizisten noch Islamisten zu sehen. Erleichterung, einerseits. Anderseits aber auch wieder ein blödes Gefühl: Wir werden nicht ernst genommen!

Dann Paris zwei. Und die Gewissheit, dass es statt des Petit Cambodge ebenso gut das edelweiss oder statt des Bataclan den Heimathafen hätte treffen können. Oder den Privatclub. Ebendort lag am Mittwoch nach den Anschlägen eine merkwürdige Anspannung über dem Record-Release-Konzert der Berliner Songwriterin Maike Rosa Vogel. Bis Vogel auf die Bühne kam und dann ohne jede Vorrede die Lieder ihrer neuen Platte spielte, mit so viel Charme und Lebensfreude, mit befreundeten Musikern aus allerlei Ländern, dass es ein einziges Glück war. Da war sie plötzlich, die Vision einer besseren Welt. Mein persön­liches kulturelles Highlight 2015.

Natürlich wissen wir, dass es Berlin nur zufällig bislang nicht erwischt hat. Aber dass, wenn es dann doch passiert, die Wahrscheinlichkeit, selbst betroffen zu sein, erheblich geringer ist, als, sagen wir, als Radfahrer im fahrlässig letal gestalteten Berliner Stadtverkehr ums Leben zu kommen. Trotzdem hat ein latentes Bedrohungsgefühl Einzug gehalten, das ungut verquickt wird mit der zweiten großen Krise des Jahres, den vielen nach Deutschland kommenden Flüchtlingen, die auf ein besseres Leben hoffen. Und die reichlich Grund zu Zweifeln an der Berechtigung dieser Hoffnung haben, wenn sie erst mal das Lageso kennenlernen. Man könnte meinen, das sei zynisch genug, aber man kann auch immer noch eins draufsetzen. Indem man etwa eine Figur wie Ehrhart Körting exhumiert und im Tagesspiegel zum Jahresende darüber schreiben lässt, dass „der Rechtsstaat in Gefahr“ sei, wegen der Flüchtlingskrise natürlich. Dann schreibt der Mann, der fast 15 Jahre als Senator der Regierung des Landes Berlin in maßgeblicher Rolle angehörte und also guten Gewissens als einer der Hauptverantwortlichen für den heutigen Zustand der Stadt bezeichnet werden darf, allen Ernstes: „Die staatliche Organisation der Bundesrepublik Deutschland hat zigtausendfach versagt, und das nicht nur einen oder mehrere Tage, sondern wochenlang.“ Was im Vergleich zur staatlichen Organisation des Failed State Berlin natürlich eine fast arrogant kurze Zeitspanne ist. Hätte Merkel doch mal Körting gefragt! Der weiß, wie man staatliche Organisation über Jahrzehnte gründlich versagen lässt.

Da war sie plötzlich, die Vision einer besseren Welt

Nur ein Beispiel

Körting ist nur ein Beispiel dafür, warum Berlin für Satiriker so ein undankbares Pflaster geworden ist. Was, bitte schön, soll man denn hier noch überspitzen oder ins Absurde drehen? Jede Pointe, die man sich im Zusammenhang mit dem BER je hätte ausdenken können und die die lieben Kollegen aus dem Text gestrichen hätten, ist von der Realität lässig überholt worden: Ventilatoren, zu schwer für die Decke, die für ihre Aufhängung eigens geplant wurde; Brandschutzex­perten, unfähig, eine Brandschutzanlage funktionsfähig zu machen, deretwegen seit Jahren alles brachliegt – das hätte einem niemand durchgehen lassen. Die Lage bei den Bürgerämtern ist nicht weniger grotesk. Früher konnte man noch lustige Geschichten über lange Wartezeiten und unfreundliche Schalterbeamte machen, heute kommen sie einem wie verklärte Berichte aus einer heilen Welt vor, in der man noch die Möglichkeit hatte, die Behörde für seine vorgeschriebenen Behördengänge aufzusuchen. Wie schön das war!

In unserem aktuellen Brauseboy-Programm spielen wir Jahresereignisse mit Playmobil nach, die das Publikum erraten soll. Es reicht inzwischen, eine verschlossene Tür aufzustellen und davor drei Playmobilfiguren mit nichtweißer Hautfarbe, schon ruft verlässlich jemand „Lageso“ in den Raum. PR-Strategen wären stolz auf eine solche Markenerkennbarkeit.