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Das „Spandauer Volksblatt“ in den 60ernEin bisschen „New York Times“

Mit Promis wie Günter Grass und Wolfgang Neuss wollte das „Spandauer Volksblatt“ Springers Quasimonopol in West-Berlin brechen. Es ging nicht gut.

Im Auftrag des „Volksblatts“: Günter Grass 1964 auf dem Kurfürstendamm in Berlin. Foto: Spandauer Volksblatt

Berlin, Kurfürstendamm, Kranzlereck, Sonntag, der 26. April 1964: Günter Grass, Wolfgang Neuss, Wolfgang Gruner und Kollegen vom Kabarett Stachelschweine halten in ihren Händen je einen Stapel Zeitungen und tragen auf dem Kopf eine Dienstmannmütze mit der Aufschrift Spandauer Volksblatt.

Die Verkaufsaktion sollte Aufmerksamkeit erregen für den Versuch, aus dem täglich erscheinenden Berliner Vorortblatt eine weltoffene Alternative zur vom Springer-Konzern dominierten Westberliner Frontstadtpresse zu machen, eben die “New York Times von Kyritz an der Knatter“, wie es damals hieß. Die Aktion gelingt: Fotos von Grass und Konsorten gehen durch die überregionale Presse, die „Abendschau“ berichtet im Fernsehen.

Die Vorgeschichte: 1961 holt sich der familiengeführte Volksblatt-Verlag die Unternehmensberatung George S. May Company ins Haus. Einer der May-Männer ist Otto Peter Schasiepen, der genauso Gefallen an dem Blatt findet wie der Verlag an ihm. Schasiepen wird Geschäftsführer. Im Folgejahr wird Hans Höppner, gebürtiger Spandauer, der sich von der Verlagskaufmannslehre über das Volontariat bis in die Redaktionsleitung hochgearbeitet hatte, neuer Chefredakteur – mit gerade einmal 32 Jahren. Schasiepen und Höppner wollen das Blatt nach vorne bringen. Noch wissen sie nicht, wo vorne ist, aber der Ehrgeiz ist groß.

Der wichtigste Impuls geht von Höppner aus, der das Blatt zu einem frühen Zeitpunkt – Erhard war Kanzler, Brandt Regierender Bürgermeister – als Befürworter einer neuen Ostpolitik profiliert. Das fällt auf. Auch Günter Grass. Als am 15. Oktober 1963 die Berliner Philharmonie eröffnet wird, macht der damalige Wirtschaftssenator Karl Schiller den Chefredakteur mit Grass bekannt. Und der fragt gleich, warum sich das Volksblatt hinter den sieben Spandauer Bergen verstecke: „Kommt doch in die Stadt!“ Grass bietet Hilfe an. Mit dem Kabarettisten Wolfgang Neuss, den Autoren Gerhard Schoenberner und Volker Klotz, damals Assistent beim Germanisten Walter Höllerer, fährt er nach Spandau zum Strategiegespräch.

Verleger, Publizisten, Schriftsteller – alle in Spandau

Aber die vier sind nur eine Art Vorhut. Im Laufe der kommenden Monate schreiben für das winzige Volksblatt – Auflage um die 25.000 – Autoren, deren Namen einen heute ehrfurchtsvoll aufblicken lassen. Der Verleger Klaus Wagenbach, die Publizistin Marianne Regensburger, die Wissenschaftler Ossip Flechtheim und Margherita von Brentano. Viele junge Schriftsteller: Peter Schneider, H. C. Buch, Hermann Piwitt, Peter O. Chotjewitz und F. C. Delius. Verlagsintern werden die neuen Mitarbeiter als „Gruppe 4711“ bespöttelt.

Ekkehard Krippendorff, ein junger Politologe an der FU, wird zum Exklusivtexter. Er hatte in den USA gesehen, dass Wissenschaftler regelmäßig in Zeitungen publizieren, bietet sich dem Volksblatt an – und erhält eine wöchentliche Kolumne. Wichtige Themen sind die USA und Vietnam, aber im Sommer 1965 schreibt er auch über die Freie Universität: Ein Beitrag über Meinungsfreiheit anlässlich geplanter, aber nicht zustandegekommener Vorträge von Karl Jaspers und Erich Kuby führt dazu, dass der Rektor der FU Krippendorffs Vertrag auslaufen lassen will. Aus der Kolumne im Volksblatt wird so das Kuby-Krippendorff-Semester an der FU mit Flugblättern, Vollversammlungen, Vorlesungsstreik. Studentenbewegung – hier fängt sie an.

Zur gleichen Zeit endet die Tätigkeit Schasiepens für das Volksblatt. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Verlag war zerrüttet. Mit Schasiepen verlieren Projekt und Autoren eine zentrale Stütze. Allerdings haben die Externen mit dem 23 Jahre alten Stefan Reisner, der später für Stern und Geo schreiben wird, längst einen hochgeschätzten Koordinator und neuen Anker in der Redaktion.

Doch im Herbst 1965 – Chefredakteur Höppner ist im Urlaub – spricht Reisner bei der Verlagsleitung vor und erklärt, er könne die geplante Platzierung einer Hertie-Anzeige auf der bisher anzeigenfreien Seite eins nicht verantworten. Das müsse er auch nicht, bescheidet ihn Verleger Kurt Lezinsky, das mache er schon ganz allein. Darauf droht Reisner mit dem Abgang der Prominenz, doch Lezinsky lässt sich nicht beeindrucken. Die Neuausrichtung hatte ohnehin nur einen überschaubaren Auflagenzuwachs gebracht.

Das Ende der „New York Times von Kyritz an der Knatter“

Es kommt zum Bruch. Am 20. Oktober 1965 meldet die Deutsche Presse-Agentur, das Spandauer Volksblatt habe seinen politischen Redakteur Stefan Reisner zum 31. Dezember gekündigt und ihm ab sofort Hausverbot erteilt. Zahlreiche Autoren gehen nun tatsächlich.

Das schnelle Ende der “New York Times von Kyritz an der Knatter“ findet noch einmal ein überregionales Echo: Der Spiegel, Die Zeit, sogar Le Monde berichten. Das Spandauer Volksblatt aber erscheint weiter: 1987/88 wird es – unter Beteiligung des Autors – modernisiert. Auch Stefan Reisner kehrt dafür noch einmal als Kolumnist zurück. Doch 1989 verkauft Verlegerin Ingrid Below-Lezinsky das Spandauer Volksblatt ausgerechnet an Springer. 1992 wird sein tägliches Erscheinen eingestellt. Nur als Anzeigenblatt für Spandau wird das Blatt noch fortgeführt.

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2 Kommentare

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  • ... es war nicht alles schlecht in der alten - brd ;-)

  • In gewisser Weise gehört das zur Vorgeschichte der taz. Befragen Sie Ekkehard Krippendorff! Dazu hat er eine genaue Meinung.

     

    Hintergrund: Im Post-Nazi Nachkriegsdeutschland durften Linke (etwa ab Willy Brandt und weiter links) in der "Qualitätspresse" bestenfalls nur Nischen füllen. Daher das große Interesse am Volksblatt.

     

    Aber das Spandauer Volksblatt kam nicht aus dem West-Berliner Dunstkreis heraus, wie auch Christian Walther hier anschaulich "knatternd" beschreibt. Da musste später die Hausbesetzerbewegung kommen, damit Zeitungsprojekte (taz und Die Neue) von West-Berlin aus bundesweit Verbreitung fanden.