Rüffel aus Straßburg für Göttinger Richter

GRUNDSATZURTEIL Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügt das Göttinger Landgericht, weil es einen mutmaßlichen Erpresser aufgrund von Protokollen verurteilte. Zu einem fairen Verfahren gehöre, dass der Angeklagte Zeugen befragen kann

Ausländische Prostituierte werden oft um ihren Lohn gebracht – viele entziehen sich aber mit guten Gründen deutschen Gerichtsverfahren. Die Täter können dann kaum zur Rechenschaft gezogen werden   Foto: Marijan Murat/dpa

von Kai von Appen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat die Bundesrepublik Deutschland wegen Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt – besser gesagt: die gesamte hochrangige deutsche Justiz. Gleich drei Gerichte haben in einem Göttinger Verfahren gegen das in der Menschenrechtskonvention verbriefte „Recht auf ein faires Verfahren“ verstoßen. Erwirkt hat das Urteil der Bremer Strafverteidiger Hans Meyer-Mews.

In dem Fall ging es um einen Georgier, dem zweifacher gemeinschaftlicher schwerer Raub in Tateinheit mit räuberischer Erpressung zur Last gelegt wurde. Im zweiten Fall soll er zwei Frauen in Göttingen in deren Wohnung mit einer Waffe bedroht und ausgeraubt haben. Die beiden aus Litauen stammenden Opfer, die in Deutschland illegal als Prostituierte arbeiteten, waren vor Anklageerhebung von der Polizei und einem Ermittlungsrichter als Zeuginnen vernommen worden. Danach verließen sie Deutschland, bevor der Beschuldigte und spätere Angeklagte festgenommen wurde.

Im Verfahren vor dem Landgericht Göttingen stützte sich die Kammer allein auf die protokollierten Aussagen, die lediglich verlesen wurden, weil es unmöglich war, die beiden Opfer als Zeuginnen zu vernehmen. Sie hatten sich geweigert, für eine Aussage wieder nach Deutschland zu kommen oder sich vor einem litauischen Gericht für eine audiovisuelle Vernehmung zur Verfügung zu stellen. Nachfragen des Angeklagten und der Verteidigung zu ihren Aussagen waren somit nicht möglich – und damit das „Konfrontationsrecht“ nicht gewahrt.

Doch aufgrund dieser verlesenen Aussagen und einer ähnlich gelagerten Tat in Kassel wurde der Angeklagte Anfang 2008 schließlich vom Landgericht Göttingen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. „Sowohl seine Revision vor dem Bundesgerichtshof als auch die Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht blieben ohne Erfolg“, berichtet Meyer-Mews. Er reichte schließlich Klage vor dem EGMR ein und hat nun von einer Großen Kammer – dem höchsten Organ – Recht bekommen.

„Der Menschenrechtsgerichtshof wies die Ansicht des Göttinger Landgerichts zurück, wonach es zum Zeitpunkt der Befragung der Zeuginnen nicht vorhersehbar war, dass diese in der Gerichtsverhandlung nicht anwesend sein würden“, berichtet Meyer-Mews. Andernfalls hätte der Beschuldigte schon bei der Zeugenvernehmung durch den Ermittlungsrichter gehört werden müssen.

„Das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Göttingen muss nun aufgehoben werden, weil der Verteidiger keine Möglichkeiten hatte, zwei zentrale Zeuginnen zu befragen“

Hans Meyer-Mews, Rechtsanwalt

Auch den Passus in der Göttinger Urteilsbegründung, das Landgericht habe die Aussagen der Zeuginnen wegen des verminderten Beweiswertes sehr vorsichtig gewürdigt, hätten die Straßburger Richter nicht für eine ausreichende Kompensation dafür gehalten, dass dem Angeklagten das Recht der Zeugenbefragung vorenthalten wurde. Denn in Artikel 6, Absatz 3d der Menschenrechtskonvention heißt es eindeutig, jeder Angeklagte habe das Recht „Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen“.

„Das rechtskräftige Urteil des Landgerichts Göttingen muss nun aufgehoben werden, weil der Verteidiger keine Möglichkeiten hatte, zwei zentrale Zeuginnen zu befragen“, sagt Anwalt Meyer-Mews. Deshalb werde er bei einem anderen zuständigen Landgericht in Niedersachsen ein Wiederaufnahme-Verfahren wegen „Konventionsverstoßes“ beantragen, sagte Meyer-Mews der taz. Sollten die beiden Zeuginnen wieder nicht zur Aussage bewegt werden können, müsse sein Mandant in diesem Punkt freigesprochen werden.

Zudem will Meyer-Mews das Bundesjustizministerium darauf hinweisen, welche Paragrafen in der deutschen Strafprozessordnung nach dem EGMR-Grundsatzurteil geändert werden müssten. Denn das Recht, Zeugen zu befragen, gelte auch für Sachverständige und Gutachter. „Künftig wird ein Verzicht auf unmittelbare Beweismittel nicht mehr einfach möglich sein“, sagt Meyer-Mews.