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Teilhabe Die Lebenshilfe Bremen unterstützt Menschen mit geistiger Behinderung, die Kinder haben – oder sich welche wünschenKein Behinderten-Bonus

Bundesweit einmalig: das Projekt „Unterstützte Elternschaft“, das ab 2016 dauerhaft gefördert wird   Foto: dpa

von Eiken Bruhn

Im Januar gibt Stefanie Barg­frede ein Seminar für Menschen mit geistiger Behinderung, die sich ein Kind wünschen. Es geht nicht darum, ihnen den Wunsch auszureden. So wie Teenagern eine Babypuppe mit nach Hause gegeben wird, um sie mittels Realitätsschock von frühen Familienplänen abzubringen. Sondern um Informationen und Aufklärung. „Was bedeutet es, Mutter oder Vater zu sein?“ ist eine Frage, die Bargfrede versucht zu beantworten. Und, ganz wichtig: „Welche Hilfen gibt es?“

In diesem Punkt kann die bei der Lebenshilfe Bremen angestellte Behindertenpädagogin die SeminarteilnehmerInnen beruhigen. In Bremen gibt es ein besonderes Hilfesystem, das es geistig Behinderten ermöglicht, in der eigenen Wohnung mit ihren Kindern zu leben – und nicht in Heimen. „Unterstützte Elternschaft“ heißt das bundesweit einmalige Projekt der Lebenshilfe Bremen, das jetzt die dreijährige Modellphase abschließt. Weil es sich aus Sicht der Sozialbehörde bewährt hat, wird es ab 2016 dauerhaft gefördert. Auch dies gibt es in Deutschland nur einmal.

Das liegt zu großen Teilen an Stefanie Bargfrede, die sich seit 25 Jahren mit dem Thema beschäftigt und als Expertin gefragt ist. Auch das Seminar hat sie schon häufiger gegeben. Sie weiß, was viele denken: Muss das sein? „Menschen mit geistiger Behinderung müssen sich mehr als alle anderen für ihren Kinderwunsch rechtfertigen“, sagt sie. „Andere bekommen Kinder ja auch nicht, weil sie die Rente sichern wollen.“ Aber können geistig Behinderte abschätzen, was mit einem Kind auf sie zukommt? Auch diesen Einwand hat sie schon so oft gehört, dass sie ihn routiniert parieren kann. „Konnten Sie das denn?“, fragt sie zurück. „Ich nicht.“

Valide Zahlen, wie viele Lernbeeinträchtigte, wie es heute genannt wird, mit ihren Kindern leben, gibt es nicht. „Das ist ja nicht meldepflichtig.“ Sicher sei laut Bargfrede, dass es mehr werden. Das liege zum einen daran, dass die Sterilisation „einwilligungsunfähiger“ Menschen seit 1992 verboten ist. Zum anderen seien Behinderte immer selbstständiger und leben wie andere auch: in der eigenen Wohnung, mit Arbeit – und das nicht unbedingt in einer Behindertenwerkstatt. „Vor 50 Jahren hat ja auch niemand gedacht, dass sie ganz normal zur Schule gehen würden. Selbst Sexualität sei kein Thema mehr, findet Bargfrede. „Das Recht darauf wird allgemein akzeptiert.“ Nur das mit den Kindern – das sei eben noch nicht so selbstverständlich.

Dabei seien es vor allem Menschen mit einer leichten geistigen Behinderung, die sich eine Familie wünschen. Die in ihrem Umfeld, oft die sozial benachteiligten Stadtteile, meistens gar nicht auffallen, weil die Grenzen zur Behinderung fließend sind. Bargfrede kennt keine einzige Frau mit Down-Syndrom, die ein Kind hat. 70 Prozent der ihr bekannten Eltern sind als Kinder so schwer vernachlässigt und misshandelt worden, dass sich das Gehirn nicht altersgemäß entwickeln konnte. Oder sie haben Unfälle oder Krankheiten überlebt. Deshalb vererben sie die Behinderung auch nicht.

Dass trotzdem bei 15 von 39 Kindern aus den unterstützten Elternschaften der vergangenen drei Jahre eine Lernbeeinträchtigung diagnostiziert wurde, liegt unter anderem daran, dass ihre Eltern sie nicht ausreichend fördern konnten. „Die haben das selbst nicht erlebt – wo sollen sie das auch her haben?“

Daher sei sie auch so froh, dass die Lebenshilfe zunehmend schon in der Schwangerschaft vom Jugendamt hinzugezogen würde und sie die Familien sehr früh begleiten und die Kinder entsprechend fördern können. So steigen die Chancen, dass die Kinder bei ihren Eltern bleiben dürfen. Nicht alle Mütter leben mit ihren Kindern allein: Bei der Hälfte der Familien ist der Vater dabei, manchmal hat auch er eine Behinderung.

Aber: Ein Drittel der 24 Familien – war auch mit Hilfe von Bargfrede und ihren KollegInnen überfordert, die Kinder wurden aus den Familien genommen. „Oft kommen die Mütter an ihre Grenzen, wenn die Kinder fünf, sechs Jahre alt sind“, hat Bargfrede erlebt. Oder wenn ein zweites Kind hinzukommt. Dann sagen einige sogar von sich aus, dass sie sich für ihre Kinder ein anderes Zuhause wünschen.

„Menschen mit geistiger Behinderung müssen sich mehr als alle anderen für ihren Kinderwunsch rechtfertigen“

Stefanie Bargfrede, Lebenshilfe bremen

Die ständige Angst, sich beweisen zu müssen, gehört zum Alltag in Bargfredes Familien. „Anfangs trauen sich viele nicht, Hilfe zu holen, weil sie fürchten, damit ihre Überforderung einzugestehen.“ Es brauche eine Zeit, bis sie verstanden hätten, dass sie damit das Gegenteil beweisen, dass sie ihre Grenzen einschätzen können. Auch nachts dürfen sie ihre UnterstützerInnen anrufen. Aber, das macht Bargfrede auch klar: „Es gibt keine Bonuspunkte für Behinderung. Die müssen es nicht besser machen als die sogenannten Normalen, dürfen es aber nicht schlechter machen.“ Immerhin bekämen sie heutzutage überhaupt die Chance dazu. „Vor 20 Jahren war es ganz normal, dass die Kinder ihnen sofort nach der Geburt weggenommen wurden.“

Aber auch noch vor zehn Jahren gab es selbst im fortschrittlichen Bremen Fälle wie den einer Frau, deren Hochzeitsfoto in Stefanie Bargfredes Büro hängt. „Der warfen die Kinderkrankenschwestern vor, keine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen, ‚Gucken Sie mal, die knuddelt den ja gar nicht‘, hieß es da.“ Bargfrede kann sich darüber immer noch aufregen. „Dabei war das kein Wunder. Die musste sich schützen, weil sie nicht wusste, ob sie ihr Kind mit nach Hause nehmen durfte!“ Am Ende durfte sie – aber auch nur, weil ihr Betreuer zusicherte, dass er nach der Entlassung von Mutter und Kind aus dem Krankenhaus die ersten Nächte bei ihr zu Hause schlafen würde, um sie zu unterstützen.

Es habe früher sehr viel solcher ehrenamtlichen Initiativen gebraucht, um den Familien helfen zu können, sagt Bargfrede. Und erzählt zum Schluss noch von Inga, einer 24-Jährigen, die sie und ihre Mutter kennt, seit das Mädchen drei Jahre alt war. „Mit sechs hat sie in meinem Wohnzimmer ihr erstes Radio-Interview gegeben, wie es ist, eine geistig behinderte Mutter zu haben.“ Auch im Fernsehen war sie schon, mehrfach. Mittlerweile rate sie Inga dazu, sich Unkosten für Interviews und Tagungsbeiträge erstatten zu lassen, so gefragt ist sie.

Auch von Inga und ihrer Mutter hängt ein Foto in Bargfredes Büro. Beide lächeln: ein hübsches rothaariges Mädchen und ihre übergewichtige Mutter, sie sehen sich ähnlich. Die Lebenshilfe sei gut für sie gewesen, habe Inga mal zu ihr gesagt, erinnert sich die Behindertenpädagogin. „Ich habe immer gemerkt, dass ihr Mama gern habt.“

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