Der Klassizismus und die Macht

ANTIKE „Meisterzeichnungen des britischen Neoklassizismus“ werden in der Tschoban Foundation gezeigt. Eine Vorlesung des Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich beleuchtet das Zitieren der Vergangenheit

Die Zeichnung zeigt einen Studenten, der am Jupiter-Tempel in Rom ein Kapitel vermisst Foto: Zeichnung: John Soane

von Ronald Berg

Die Zeichnung besticht durch äußerste Detailliertheit. Mit exakter Akkuratesse ist auf dem etwa einen Meter breiten Blatt noch jeder Backstein dargestellt. Zu sehen ist eine Kirche, die wie durch einen großen Bombentreffer völlig aufgerissen scheint und vom Dachstuhl bis zum Keller ihr gesamtes Innenleben preisgibt. Doch die Kirche, die auf der Zeichnung von 1824 wie eine Ruine wirkt, sollte erst ein paar Jahre später überhaupt erbaut werden. Die „Cut‑away“-Darstellung war ein Trick, um Struktur und Einzelteile ihres Baus zu verdeutlichen: die Backsteinmauern mit den vorgeblendeten ionischen Pilastern auf der Fassade genauso wie die Säulen im Inneren, die die Empore tragen.

Was das Blatt, das derzeit in der Tschoban Foundation zu sehen ist, aber über eine Bauzeichnung hinaushebt, ist nicht nur die geradezu fotografische Genauigkeit des Entwurfs, sondern dessen Einbindung in eine kunstfertige Erzählung: So diskutieren zwei offenbar mit dem Bau befasste Gestalten am Bildrand über einem großen Grundriss des Gebäudes, während sich um sie herum Reste eines antiken Ruinenfelds auftun. Im Himmel erscheint gar die Vision der fertigen Kirche auf einem Regenbogen. Das kolorierte Blatt liefert Stimmung und Information in einem.

Beeindruckende Raffinesse

Mit seiner Raffinesse sollte es den Bauherrn beeindrucken. Das ist gelungen. Architekt John Soane (1753–1837) konnte die Holy Trinity Church 1828 mit ihrem klassizistischen Gewand genauso bauen wie in der Zeichnung. Die Kirche steht im Londoner Stadtteil Marylebone bis heute. Gezeichnet hatte Soane damals allerdings nicht selbst. Dafür hatte er Angestellte, die mitunter wochenlang an einer einzigen Zeichnung arbeiteten. Das Blatt der Trinity Church ist eines der Highlights der aktuellen Ausstellung mit „Meisterzeichnungen des britischen Neoklassizismus“ in der Tschoban Foundation. Mit Neoklassizismus meinen die Briten ihre Tradition zwischen Mitte des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, in der die Architektur maßgeblich auf der Rezeption der Antike beruhte.

Neu daran war die Tatsache, dass die Nachahmung der Antike nicht wie zuvor hauptsächlich auf der Vermittlung des Renaissancearchitekten Andrea Palladio beruhte, sondern dass nun die antiken Überreste selbst zu Rate gezogen werden konnten: Herculaneum und Pompeji lieferten seit ihrer Entdeckung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Anschauungsmaterial. Italien wurde zur gleichen Zeit Ziel für die „Grand tour“ der potenziellen Bauherren auf der britischen Insel. Das war nicht nur der Adel, sondern verstärkt auch das Bürgertum, das sich mit der beginnenden Industrialisierung situierte. Auch John Soane ist – wie viele seiner damaligen Architektenkollegen – in Rom gewesen. Das Besondere an Soanes Antikenrezeption besteht neben dem Wissen um die antiken Originale in seinem Sammeltrieb. Soane schuf bereits zu Lebzeiten in seinem Londoner Privathaus ein Architekturmuseum, das von Modellen, Zeichnungen und Gemälden geradezu überquoll, darunter Antiken genauso wie Zeichnungen berühmter Zeitgenossen und Konkurrenten, etwa der Architekten William Chambers und Robert Adams.

Soanes Museum existiert bis heute. Aus seinen Beständen kommt die opulente Auswahl an Zeichnungen in Berlin. Sie bietet einen guten Überblick über die Architektur des (Neo‑)Klassizismus in England vom Country House der Gentry bis zu den vielen neuen Bauten im Staatsauftrag und erzählt viel über das Medium der Architekturzeichnung im damaligen England. Die vermittelte eben mehr als bloße Informationen, sie setzte die Architektur oft in ein Stimmungsbild: Hier wehte ein Geist, der die Antike als Ideal und Vorbild begriff.

Vor allem römische Vorbilder waren gefragt, schließlich galt es erneut, ein riesiges Imperium auszustatten und seinen weltumspannenden Anspruch zu repräsentieren. Downing Street, im Zentrum der Macht des Empire, sieht auf ­Soanes Entwurf von 1827 mit seinen Triumphbogen samt Reiterstaue als Eingangstor viel pompöser aus als heute. Eine Straßenseite von Soanes Entwurf blieb unrealisiert. Warum der Klassizismus so willfährig zur Repräsentation der staatlichen Macht taugte, bis hin zur Indienstnahme durch die Nationalsozialisten, dem ging der Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre in einer Vorlesung nach, die der arch+ Verlag jetzt nachgedruckt hat. Heinrichs Darstellung zu „Karl Friedrich Schinkel und Albert Speer“ fragt nach den kultischen Kontexten, die die „Veranstaltung“ des Klassizismus begleiten. Die Architektur ist für Heinrich stets ein Repräsentationsgebilde, an dem sich gattungsgemäße Einsichten zum Menschen und seinem Weltverhältnis ablesen lassen.

Die Nachahmung der Antike im Neoklassizismus zog antike Ruinen zu Rate

Dabei stehen Schinkel und Speer für zwei exemplarische und entgegengesetzte Richtungen des Klassizismus. Schinkels Entwürfe beziehen sich auf eine arkadische Utopie des schönen Lebens. Die Gebäude des preußischen Baumeisters nehmen Rücksicht auf Landschaft oder städtische Umgebung, steigern und veredeln das Vorhandene. Schinkel entwickelt Formen weiter und hält auf diese Weise auch klassische Formen lebendig.

NS-Architektur à la Albert Speer repräsentiert für Heinrich dagegen die Unterwerfung in einer Bewegung. Bewegung meint nicht nur die Kanalisation der Menschenmassen in gebauten Aufmarschachsen, sondern auch den Aufbau einer inneren Disposition für (Opfer‑)Tod und Totenkult. Davon künden die geplanten Totenburgen für die zukünftig Gefallenen genauso wie Speers „Große Halle“, wo das Subjekt in der Volksgemeinschaft untergehen sollte.

Der NS beerbt also für Heinrich dasjenige an der klassizistischen Architektur, was sich gegen das Leben absetzt und was in der stereometrisch-kristallinen Form der Gebäude auch angelegt ist. In Heinrichs Perspektive entpuppt sich damit das überzeitlich Gültige des Klassizismus, als Frage nach Leben und Tod: Steigerung des Lebens oder Feier des Todes, das sind die Alternativen.

Tschoban Foundation, Chris­tinenstraße 18A. Bis 14. Februar 2016. Mo.–Fr. 14–19 Uhr; Sa. + So. 13–17 Uhr

Klaus Heinrich: „Karl Friedrich Schinkel / Albert Speer. Dahlemer Vorlesungen. Eine architektonische Auseinandersetzung mit dem NS“. arch+ Verlag, 35 Euro