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Vielleicht ist diese Region, der Norden Deutschlands, eine Gegend, in der nichts passiert – NICHT, DASS DAS UNBEDINGT SCHLECHT WÄRELob der Langeweile

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Das Jahr geht zu Ende. Nichts ist mehr so wie es war, im letzten Jahr. Obwohl: Das ist wie letztes Jahr. Dass nichts so ist wie im Jahr davor. Und im Jahr davor, und im Jahr davor. Irgendwann, zum Beispiel, ist es auch in Norddeutschland einmal Winter gewesen. Früher, das weiß jeder, lag immer Schnee. Früher, als wir Kinder waren, da hatten wir immer Winter im Winter, wir können uns genau erinnern, oder? Oder nicht?

Jetzt ist das so. Jetzt ist es grau und warm. Manchmal kommt die blendend tiefe Wintersonne raus und dann setzt man besser eine Sonnenbrille auf, im Straßenverkehr. Gestern ging ich durch den Schanzenpark und sah die Bäume blühen. Auch im Harz, las ich, werde es mit großer Sicherheit in diesem Jahr keinen Schnee mehr geben. Nicht mal aus der Schneekanone auf dem Wurmberg, wenn es 16 Grad warm ist.

Dieses Jahr kamen also die Flüchtlinge. Plötzlich waren sie da. Am Hamburger Hauptbahnhof, in Harburg, in Kiel und in Flensburg, auch in den Dörfern Schleswig-Holsteins, wo ab und an ihre Unterkünfte angezündet wurden von besorgten Bürgern. 2015 war das Jahr, als die Flüchtlinge kamen, so denke ich jetzt. Vielleicht wird auch 2016 das Jahr, als die Flüchtlinge kamen, vielleicht übertrumpft 2016 in dieser Hinsicht 2015, das kann man jetzt noch nicht wissen.

Hamburg entschied sich gegen die Olympischen Spiele, Helmut Schmidt starb und wurde würdig beigesetzt, es passierte noch dies und jenes kleinere Drama, aber im Großen und Ganzen eben auch nichts. Die Anschläge waren in Paris und nicht in Kiel, in Hannover sollte vielleicht was passieren, aber es passierte eben nicht.

Vielleicht ist diese Region, der Norden Deutschlands, eine Gegend, in der nichts passiert. „Wir haben gehalten, in der langweiligsten Landschaft der Welt“ (Tocotronic): in einer Landschaft der Sicherheiten, der Besonnenheit, des Unspektakulären. In einer Gegend für Musicals, Messen, Liberalismus, ein bisschen Rassismus, auch Sexismus, das schon, wo die Menschen sich langsam bewegen, aber gezielt. Auf den Wiesen und zwischen den Kanälen.

Ich will mich nicht beschweren. Ich mag es hier. Ich wäre sonst woanders, in New York oder Tokio oder London. Ich laufe gern über die Wiesen und freue mich über den Kohl und die Kürbisse, ich mag die Heide und den Hafen, ich mag es sogar, dass hier nichts Spektakuläres passiert, ich bin zufrieden, dass die Bürger Hamburgs sich gegen das Olympia-Spektakel entschieden haben, und das, noch bevor sie wussten, dass anderthalb Wochen später Hamburgs Parlament, die Bürgerschaft, das größte Rettungspaket ihrer Geschichte beschließen würde: ein Kreditpaket für die HSH Nordbank in Höhe von 6,2 Milliarden Euro.

Ich habe sogar Hoffnung, dass es so bleibt, dass hier zu uns der Terror nicht herkommt, auch wenn das ein naiver Wunsch ist, ich habe die Hoffnung, dass wir uns mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, arrangieren, dass wir ihnen helfen können und sie uns, unseren kleinen Horizont zu erweitern, ich wünsche mir natürlich eine bessere Politik, mehr Hochkultur statt populären Musicals und Hafenpartys, ich wünsche mir mehr Abseitiges und mehr Mut dazu.

Aber ich sehe auch, dass gerade die skeptische Haltung des norddeutschen Grüblers ihn vor vielem bewahrt, vor vorschnellem Hass zum Beispiel oder vor den Reaktionen darauf. Dieses Erstmal-sehen-wie-es-wird, dieses Abwarten-und-Ruhe-bewahren, das gefällt mir ganz gut. Besonnenheit ist in allen Zeiten keine ganz schlechte Haltung.

Deshalb, und weil Weihnachten ist, will ich heute und in meiner Kolumne ausnahmsweise nicht meckern. Ich wünsche allen Menschen, sowohl den neu angekommenen, die sich hier einrichten können und bei uns bleiben wollen, wie auch denen, die schon immer hier wohnen, in der langweiligsten Landschaft der Welt, frohe Weihnachten und ein gesundes und vor allem friedliches neues Jahr!

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

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