Relaunch des Jazzlabels MPS: Dicke Schlitten in Brandenburg
Einst war MPS Records ein Garant für Jazz. Dann wurde das Label verkauft, die Musik verschwand. Dank Relaunch ist sie nun wieder da.
„Neue Schallplatten?“, lesen westdeutsche Hausfrauen 1963 als Denkanstoß auf dem „Vorbereitungs-Merkzettel“ im „Neuen Großen Kochbuch“. Es gilt, die Gäste auch musikalisch zu unterhalten. Während für ihre Verköstigung noch der „von der Bundesregierung vorgeschlagene 14-Tage-Grundvorrat“ empfohlen wird, spricht man in Villingen im Schwarzwald bereits weltläufig von „Catering“.
Dort ist die Welt seit 1961 zu Gast im Haus von Hans Georg Brunner-Schwer. Damals nämlich nimmt der kanadische Jazzpianist Oscar Peterson am Flügel in dessen Wohnzimmer Platz. Ehefrau Marlies Brunner-Schwer kümmert sich derweil um Petersons leibliches Wohl, Hans Georg wiederum besorgt die Mikrofonierung und Aufnahmetechnik, die er eigens für Petersons Instrument ausgetüftelt hat, denn er will ein Album des gefeierten Jazzstars veröffentlichen.
Brunner-Schwer ist einer der beiden Erben der Schwarzwälder-Apparate-Bau-Anstalt, kurz SABA. 1962 zieht er sich aus der Firma zurück und gründet die Plattenfirma SABA. Zum 1. April 1968 firmiert diese unter Musikproduktion Schwarzwald, kurz MPS, und entwickelt sich zum wichtigsten europäischen Jazzlabel. Das bleibt so bis 1983, als MPS an den Major Polydor verkauft wird und damit die knapp über 500 Aufnahmen aus dem Katalog in der Versenkung verschwinden. Der bleibt unter Verschluss, bis die Edel AG 2014 das Label MPS von Universal erwirbt und dessen Katalog zu neuem Leben erweckt.
„Ein deutsches Jazzlabel war aus Sicht der anglo-amerikanischen Chefs bei Universal schwer durchzusetzen“, sagt Christian Kellersmann, Managing Director von Edel:Kultur, bis 2013 noch bei Universal tätig und in den achtziger Jahren Saxofonist der Hamburger NdW-Band Die Zimmermänner. „Im Headoffice kannte man Labels wie Blue Note, Impulse oder Prestige. Die deutschen Künstler, die wir unter Vertrag hatten, wollten gerne bei Verve erscheinen. Deshalb haben wir nie darüber nachgedacht, das MPS-Label zu reaktivieren. Im Nachhinein würde ich sagen – hätte man eigentlich machen können. Aber es ist nie zu spät.“
Große Bandbreite
Kellersmann startete den Relaunch von MPS mit neuen Alben. Seine Offenheit für große musikalische Bandbreite knüpft an das Spektrum der einstigen Produzenten an: „Wir wollen interessante Alben veröffentlichen, von denen wir glauben, dass die der Markt braucht. Es gibt ja nicht die eine MPS-Klangästhetik, das Label hat viele musikalische Väter.“ Einflussreichster MPS-Produzent war der Musikjournalist, Rundfunkredakteur, Festivalleiter und „Jazzpapst“, Joachim-Ernst Berendt (1922–2000). Er sorgte für Live- und Studio-Aufnahmen und begeisterte sich für den Latin-Jazz des brasilianischen Gitarristen Baden Powell ebenso wie für den traditionalistischen Jazz des Harlem-Stride-Pianisten Willie „The Lion“ Smith im Schwarzwald.
Behrendt produzierte auch den Free Jazz der Großformation Globe Unity von Alexander von Schlippenbach oder den Space Jazz von Sun Ra und seinem Intergalactic Research Arkestra. Viele seiner innovativen Projekte sind nun in digitalen Wiederveröffentlichungen, oder in den Formaten CD und Vinyl neu zu entdecken. Eine der ersten MPS-Neuveröffentlichungen unter Kellersmanns Ägide ist „Stereo“, ein Album das der Jazzklarinettist Rolf Kühn mit seinem Berliner Trio aufgenommen hat. Kühn konnte sich zwischen 1967 und 1980 zu den glücklichen Empfängern erklecklicher Summen aus dem Hause Brunner-Schwer zählen. Die Alben unter eigenem Namen spielte er in Hamburg und Köln ein, nicht in Villingen.
Oscar Peterson: „Exclusively for My Friends“, 8-CD-Box; Friedrich Gulda: Johann Sebastian Bach, „Das Wohltemperierte Klavier“ 4 CDs; Barbara Dennerlein: „Christmas Soul“; Rolf Kühn: „Stereo“; Lisa Bassenge: „Canyon Songs“; Malakoff Kowalski: "I love you".
Alle erschienen bei MPS/Edel Germany.
Seine Aufnahme von „Stereo“ auf getrennten Tonspuren war vermutlich als Clou für erlesenen Hörgenuss angelegt, erweist sich aber als Schuss in die Gegenrichtung: Das Schlagzeug Christian Lillingers ist überpräsent, hat aber wenig mehr zu bieten als Salven auf den Becken und Bass-Drum-Akzente, die bestrickenden Improvisationen des Gitarristen Ronny Graupe sind die eigentliche Überraschung des Albums. Seine beiden Stücke nehmen zudem mit erstaunlichen Themen und dem Gespür für einzigartige Sound-Rezepturen gefangen. Kühns Improvisationen klingen heute nicht mehr ganz taufrisch, was dem inzwischen 86-Jährigen aber fraglos zu verzeihen ist.
Jazzige Weihnacht
Christian Kellersmann erklärt unumwunden: „Für das Album von Rolf Kühn sehe ich eher eine ältere männliche Zielgruppe, ich glaube, dass unsere Künstlerin Lisa Bassenge mehr Potenzial bei Käuferinnen hat. Bei Barbara Dennerlein würde ich 50/50 vermuten.“ Dennerlein, eine Organistin aus München, hat ihr nun erscheinendes Weihnachtsalbum bereits vergangenen Juni im Studio des italienischen DJs und Produzenten Nicola Conte in Bari eingespielt. Ihre Hammond B3 klingt im Verbund mit Flöten, Klarinetten und Tenorsaxofon von Magnus Lindgren, Bass, Schlagzeug und Percussion sehr viel stimmiger als Kühns Stereo-Experiment.
Conte selbst reichert den Soul in zwei Stücken auf der Gitarre an, die britische Sängerin Zara McFarlane verbreitet in drei Songs das obligate Weihnachtssentiment. Für säkulare Gemüter ist Dennerleins Heimorgel ideal: Sie schöpft die Bandbreite zwischen vergnügtem Glucksen und bluesiger Versonnenheit voll aus, scheut auch den Space-Modus nicht und weiß genau, wann die typischen schrillen Töne am besten zur Geltung kommen. Leider hat „Christmas Soul“ nur in diesen Wochen Saison, es lässt aber eine weit größere Spielwiese für Dennerleins Sound in Ensembles erahnen.
Exzellente Studiomusiker rahmen den Gesang von Lisa Bassenge auf „Canyon Songs“. Die Berlinerin hat ihr erstes Album für MPS in Los Angeles eingespielt, nach ihren letzten beiden Werken mit poppigen, auf Deutsch gesungenen Chansons, interpretiert sie nun englische Texte. US-Produzent Larry Klein hat nichts dem Zufall überlassen, Freiheit verströmen nur die kurzen schneidigen Funken und luftigen Improvisationen des Trompeters Till Brönner. Auch wenn die Stimme von Bassenge stets präsent ist, ihr Timbre zwischen mädchenhafter Schwärmerei und abgeklärter Coolness changiert und ihr die Texte ausgereift von den Lippen gleiten, lassen die genau berechneten Texturen von Gitarren und Streichern keine Stimmung aufkommen.
Resterampe im Schlafzimmer
Hier und da vermittelt sich die ersehnte Fahrt mit einem US-Straßenkreuzer, für die Fotosession mit einem dicken Schlitten musste indes eine Kiesgrube in Brandenburg als Kulisse ausreichen. Larry Klein, der zuletzt die Stimme der US-Jazzsängerin Lizz Wright auf ihrem Album „Freedom & Surrender“ veredelt hat, mag für die Erschließung neuer Käuferschichten ein Garant sein, ein Manko seiner Produktionen ist jedoch, dass sie nicht auf Konzerte übertragbar sind. Für Lisa Bassenge bedeutet das wiederum, auf hiesigen Bühnen ihre Freiheit als Bandleaderin und Sängerin präsentieren zu können.
Mit erheblich weniger Vermögen in Gesang, Instrumentalspiel, Komposition und Arrangement ausgestattet ist dagegen leider der Berliner Malakoff Kowalski, dessen Schlafzimmer-Album „I Love You“ im Frühherbst auf MPS veröffentlicht wurde. Sein Instrumentenkarussell auf diversen Tasten, Saiten und Flächen für Klopfzeichen ist eine klingende Warnung an alle Musiker mit Haltung, sich keinesfalls an Riffs von der Resterampe zu bedienen und beim Komponieren von Songs, der Aussprache des Englischen und über die Sinnfrage intonierter Silben besser noch andere Meinungen einzuholen. Kowalskis Album ist bislang die einzige Entgleisung im MPS-Katalog.
Die gute Nachricht: Im Januar wird der britische DJ und Radiomacher Gilles Peterson mit einer Compilation Einblick in seine persönlichen Lieblingsaufnahmen von SABA und MPS geben. Bis dahin kann man sich an den aufwendigen Neuauflagen der Sessions von Oscar Peterson gütlich tun, das Remastering von Friedrich Guldas Interpretation von J. S. Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ bewundern oder sparen und Platz schaffen für ein Tonbandgerät – denn erstmals in der Geschichte des Labels sind Tonbänder aufbereiteter Master Tapes auch außerhalb des Schwarzwalds erhältlich.
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