Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 15: Ein Knall zerreißt die Träume

Die kleine Straße erlebte turbulente Stunden und Tage. Die Sorgen und Nöte der vom Baulärm zerrütteten Anwohner nördlich des Alexanderplatzes waren von neuen Entwicklungen in den Hintergrund gedrängt worden. Alles hatte damit begonnen, dass eines Montagmorgens Soldaten aufgetaucht waren. Bundeswehr in Ostberlin. Der Anblick der Uniformen versetze Oma Heinrich einen solchen Schock, dass sie ihr Bienchen kurzerhand von dem Haselnussbäumchen wegriss, das die Pudeldame für ihr Geschäft auserkoren hatte. Selbst das daraufhin einsetzende jämmerliche Fiepen ihrer Gefährtin gebot Oma Heinrich nicht Einhalt.

Nur Flucht!

Django stand gerade unentschlossen an der Kreuzung herum, als die Männer aus den Autos sprangen. Auch er, der beste Gitarrist der Welt, staunte nicht schlecht, rieb sich die Augen, zweifelte an der chemischen Zusammensetzung seiner letzten Lines und beschloss, vorsichtshalber das Weite zu suchen. Selbst die apathischen Flaschensammler, die sich täglich vor dem Automaten der Kaufhalle trafen, reckten neugierig ihre Köpfe in Richtung der Turnhalle, vor der olivfarbene Militärfahrzeuge bei angelassenem Motor hielten. Nur Anne zeigte sich wenig überrascht: „Ah, es geht los.“

Erst war es nur ein Gerücht gewesen, dann kam die Bestätigung durch eine Kundin, die im LaGeSo in der Turmstraße arbeitete und täglich ihre Milch hier kaufte. Von da an verwandelte sich Annes Bioladen in eine Art Informationszentrale. Sie lernte, welche Berufe sich hinter den ernsten Gesichtern ihrer Kundinnen verbargen. Insbesondere bei jenen Werbetexterinnen, Ärztinnen, Psychotherapeutinnen und Malerinnen, die gerade ihre Elternzeit nahmen, wuchs das Interesse an der geplanten Flüchtlingsunterkunft mit jeder neuen Schlagzeile.

„Wir müssen was machen.“ Hatten ihre Sorgen anfangs noch mehr den eigenen Kindern gegolten, war mit Ankunft der ersten Flüchtlinge eine fabelhafte Wandlung in Gesten und Gesichtern der Mütter und Väter zu beobachten. In heiligem Ernst schlürften sie ihren Kaffee aus ökologisch einwandfreiem Anbau, steckten die Köpfe zusammen, telefonierten, erstellten Bedarfs- und Einsatzlisten. Die Gruppe wuchs so rasch wie ihre Probleme.

„Lasst uns bloß kein Wegwerfgeschirr benutzen.“ „Aber wir haben noch immer nichts in ausreichenden Mengen. Keine Teller, kein Besteck …“ Auch nachdem sie ein Forum auf Facebook gegründet hatten, blieb Annes Hilfe gefragt. Ihr Lager diente als Sammelpunkt für Spenden aller Art.

„Ick hab Schulsport immer jehasst.“

Im blaulicht waren sie sich einig: Sollten die armen Menschen doch in der Turnhalle schlafen. Heiko und Lolle grummelten zwar ein bisschen in ihre Biere. Aber taten die das nicht sowieso immer? Nur einmal war spätabends einer reingewankt in die gute Stube, der hemmungslos rumschimpfte: Kanaken. Schmarotzer. Die alte Leier. Und die BRD, das sollten mal alle bedenken, die gebe es ja überhaupt nicht. Da war Sprottenpeter der Kragen geplatzt: „BRD. DDR. Mir doch egal!“ In stillem Einvernehmen mit der Wirtin hatte er den Spinner vor die Tür gesetzt. Peter konnte so was ohne viel Gewese. Erst als sich Lale, Hildegards beste Tresenkraft, für ein paar Tage abmeldete, um in der Notunterkunft zu helfen, begannen die Männer zu schmollen. „Müsst wohl mit mir vorliebnehmen.“

Hildegard blieb gelassen. Seit sie sich überwunden und Fritze alles gebeichtet hatte, ging es ihr wieder gut. Wenn sie geahnt hätte, dass sich der alte Freund so gar nicht ärgern würde! Fritze kriegte sich seitdem kaum noch ein. Immer wenn er den Gastraum betrat und Hildegard am Tresen erblickte, lachte er herzhaft los. „Na, meine Heldin!“

Dennoch blieb zu klären, wie es nun weitergehen sollte. Fritze hatte vorgeschlagen, alles ins Klo zu schmeißen. „Und den Schlüssel hinterher.“ Sie fand, das sei Verschwendung. Vor allem: Was, wenn das Gerücht stimmte und ein neuer Hausbesitzer ins Spiel käme? Hing nicht alles davon ab?

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

Oma Heinrich saß auf ihrer Couch und weinte. Hemmungslos kullerten die Tränen, fielen ihr in den Schoß, auf die Hände. Dabei hatte sie schon vor Tagen von Ellis Tod erfahren und ein Licht für die Freundin angezündet. Der Anwalt war vorbeigekommen, hatte kondoliert und die notwendigen Papiere vorgelegt. Doch nun saß die Traurigkeit wie ein großer, schwarzer Vogel auf ihren Schultern. Bienchen verkroch sich unterm Sofa. Sie konnte Vögel nicht leiden.

„Cheeeefiiiin, iiiich muuuuß jeeetzt wiiiierrrkliiiich loooos.“ Fast hätte Anne Nura vergessen. Dabei hatte ihre studentische Hilfskraft den Laden in den letzten chaotischen Tagen fast allein geschmissen. Die Ärmste! Wollte doch längst bei den Eltern sein! „Stimmt, du kriegst noch Lohn. Wann geht denn dein Flug nach Taschkent?“ „Moooorrrgen. Kuuuurrrz voooorrr zwaaaaaiii.“

Das Mädchen beobachtete die vorbeieilenden Menschen, eingemummelt und beladen mit schweren Einkaufstüten. Ein bisschen würde sie Berlin vermissen. Den Komfort ihrer kleinen Wohngemeinschaft. So viel Geld wie bei Anne könnte sie zu Hause nicht verdienen. Noch nicht.

Der Tag war aus. Dicke Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Unter die parkenden Autos duckten sich Katzen, Marder, der Fuchs. Die meisten Menschen schliefen friedlich. Während die Schlaflosen im Flimmerlicht ihrer Fernsehgeräte hindämmerten, hockten Hildegards Gäste zur letzten Runde im blaulicht.

Es war zu spät für Gespräche. Die Trinker hingen ihren Gedanken nach. Wie es wohl denen in der Turnhalle erging? Aus den Boxen über der Bar schmetterten die „Blues Brothers“ ihr „Everybody needs somebody to love“. Da zerriss ein ohrenbetäubender Knall alle Träume ringsum. Hildegard hielt sich am Tresen fest. Ängstlich blickte sie zur Straße hinaus, wo Asche und glimmende Partikelchen durch die Luft schaukelten. So leise. So schön. So schrecklich.