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Die andere Welt, immer schon da

KLASSIKPOP Drei Tage lang spielen: Das Orchester Stargaze um den Berliner Dirigenten André de Ridder stellt an der Volksbühne seine Ausnahmestellung unter Beweis und spannt den Bogen „From Bach To Greenwood“

Der Berliner Chor Cantus Domus singt – unter anderem – Béla Bartóks „Dorfszenen“ Foto: Oliver Beige/Stargaze

von Jens Uthoff

Zwei dicke fette Ausrufezeichen in Weiß auf Rot säumten links und rechts die Fassade der Volksbühne; schon von Weitem waren sie zu sehen, wenn man Richtung Rosa-Luxemburg-Platz schritt. Ebenso das mittig auf dem Dach platzierte Motto: „Hören“ stand dort in jener Frakturschrift, für die das Haus mittlerweile bekannt ist.

Nun ist „Hören“ ohnehin das Motto aller Konzerte, die in der traditionsreichen Theaterstätte aufgeführt werden – das ergibt ja auch durchaus Sinn. Aber auch die markanten Ausrufezeichen ergaben Sinn, denn das vom Berliner Orchester Stargaze kuratierte Festival, das von Freitag- bis Sonntagabend über die Bühne ging, war wirklich etwas Besonderes – und ein Highlight des diesjährigen Musikprogramms an der Volksbühne.

Nuancen gewonnen

Einerseits wegen des breiten Spektrums an Musik, die gemäß dem Festivalnamen „Stargaze Orchestral – From Bach To Greenwood“ in insgesamt 14 Aufführungen gegeben wurde: Sie reichte vom Barock bis in die Gegenwart hinein, zu den Kompositionen des Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood. Am Eröffnungsabend switchte man mal eben zwischen einer Bach-Kantate und einem Stück der Acid-Rock-Band Grateful Dead. Andererseits aber ist das 2013 gegründete Ensemble um den international zwischen Pop und Klassik bestens vernetzten Berliner Dirigenten André de Ridder sowieso zur unverzichtbaren Marke geworden. Stargaze arbeitete unter anderem bereits mit Pop-Größen wie Julia Holter oder Owen Pallett zusammen. Bei den meisten Projekten waren tolle Neuinterpretationen zu hören, die den Originalstücke völlig neue Nuancen abgewannen.

Um Nuancen geht es auch bei einem Cellokonzert György Ligetis, mit dem Stargaze am Samstag eröffnet, mit Michael Rauter am Cello und 30-köpfigem Orchester. Das heißt, zunächst verharren die Musikerinnen und Musiker in minutenlanger Stille.

Gerade denkt man, es würde John Cage gegeben, da spazieren Jeremy Barnes (mit Akkordeon) und Heather Trost (mit Geige) durch den Saal – sie bilden zusammen das Duo A Hawk And A Hacksaw, das später auftreten soll und ein Stück osteuropäischer Straßenmusik als Ouvertüre vorweg gibt.

Es folgt das von Rauter und Orchester dahingehauchte Cellokonzert von Ligeti, bei dem ich unwillkürlich an das schlichte Motto „Hören“ denken muss: zuhören, hinhören, Gehör schenken – Stargaze interpretiert das Stück von Ligeti so fein ziseliert, so sanft gezupft, zum Teil nur knapp über der Wahrnehmungsgrenze, dass man wirklich sehr genau hinhören muss. Ein anspruchsvolles Stück; eines, das die Stärken von Stargaze in einer knappen halben Stunde auf den Punkt bringt: 30 Musikerinnen und Musiker, und man hat das Gefühl, als höre man jeden und jede einzelne davon.

30 Musikerinnen und Musiker spielen Ligeti, und man hat das Gefühl, als höre man jeden und jede einzelne davon

Ein weiterer Höhepunkt ist der Auftritt von A Hawk And A Hacksaw. Das Duo kommt zwar eigentlich aus New Mexico, aber Barnes und Trost sind so viel in Osteuropa und Vorderasien unterwegs gewesen, dass sie vor allem aus den Volksmusiken Ungarns, Rumäniens, der Türkei, Griechenlands oder Israels schöpfen, um nur einige Länder zu nennen. Im Wechsel mit Stargaze spielen die beiden an Geige und Cimbalom eigene Stücke ihres großartigen jüngsten Albums, „You Have Already Gone to the Other World“, während das Orchester gemeinsam mit dem Chor Cantus Domus Béla Bartóks „3 Dorfszenen“ neu interpretiert. Allesamt toll. Die Schwere Bartóks und die zwischen Beschwingtheit und Melancholie pendelnden Stücke von A Hawk And a Hacksaw ergänzen sich gut.

Andere Saiten

Die zwei Kompositionen des Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood, die de Ridder mit 40-köpfigem Streicherensemble (nun unterstützt vom Berliner Ensemble Kaleidoskop) anschließend aufführt, fallen dagegen leicht ab – wobei, als zwischenzeitlich die Geigen und Bratschen wie Gitarren gespielt werden und tolle Rhythmen daraus entstehen, hat auch dieser Abschluss des Samstagabends große Momente.

Beim Auftritt der irischen Indie-Folk-Band Villagers am Sonntag sind die großen Momente etwas rarer. Das liegt zum einen daran, dass die Kompositionen der Villagers etwas zu gängig für das Indie-Folk-Genre der vergangenen Jahre sind – hat man das nicht anderswo schon genauso gehört? –, zum anderen wirken Stargaze hier „nur“ wie eine leise Begleitband. Beeindruckend aber sind sie dann, wenn sie eigene Impulse in die Stücke hineingeben. Dem Publikum gefallen die betulichen Klänge der Villagers trotzdem; auch am dritten Abend des Festivals ist die Volksbühne nahezu ausverkauft. Mit einer Kolla­boration mit der jungen dänischen Punkband Iceage gehen die orchestralen Tage dann zu Ende – auf die nächsten Stargaze-Projekte, ob an der Volksbühne oder anderswo, darf man sich freuen.

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