Die Sprache hinter sich gelassen

FILM Das Unvorhersehbare feiert Filmessayist Jonas Mekas. Mit ihm beginnt die Reihe „Wörterbuch der Gegenwart“ im Haus der Kulturen der Welt

Jonas Mekas Foto: Hollis Melton (hkw)

„Es gibt keine Erinnerungen.“ Alt und leicht zittrig klingt die Stimme, die wild aufeinanderfolgende Bildsequenzen von Schlittschuh fahrenden Menschen, Gesichtern, spielenden Kindern, Strand und Meer und sich putzenden Katzen begleitet. „Die Erinnerungen sind weg, aber die Bilder sind hier. Wen kümmern schon Erinnerungen? Mich nicht!“

Dieser Auszug aus Jonas ­Mekas’ buntem Film „Out­takes from the Life of a Happy Man“ gibt den Ton an für die erste Veranstaltung der Serie „Wörterbuch der Gegenwart“ im Haus der Kulturen der Welt. Was ist die Gegenwart? Für Jonas Mekas ist alles Gegenwart: Auf die Bilder der Vergangenheit könne man eben nur mit Gedanken und Gefühlen des Jetzt reagieren. Die Vergangenheit sei immer in die Gegenwart eingebettet und von ihr gefärbt.

Der Regisseur und Schriftsteller Mekas ist zu diesem Abend persönlich erschienen und liest zwischendurch aus seinen veröffentlichten Tagebüchern vor – zumeist Einträge aus den vierziger Jahren. Film, Lesung und kurze Interviews mit den Veranstaltern wechseln sich ab und spiegeln genau das Planlose, Unvorhergesehene wider, das Mekas­ Werk so eigen ist.

Kompliziertes Jetzt

An manchen Stellen hingegen scheint die Idee der Gegenwart, die dem Abend Titel und Motto gab, ein bisschen hinterher. ­Mekas und seine Gesprächspartner Anne König und Christian Hiller mögen das Konzept Gegenwart so oft heraufbeschwören, wie sie wollen: Es wirkt nur umso erzwungener. Zu sehen und zu hören sind maßgeblich Aufzeichnungen aus den vierziger Jahren, und Jonas Mekas selbst erweckt nicht gerade den Eindruck einer pulsierenden ­Gegenwart. Dem 92-Jährigen stockt zwischendurch die Stimme, die Stufe zur Bühne hinauf bereitet ihm Schwierigkeiten. Er sagt selber, er verstehe das „Jetzt“ nicht, und bezieht sich damit ganz explizit auf die Lebensweise seiner Zeitgenossen. Ansonsten erzählt er vor allem Anekdoten aus der Vergangenheit. Und was ist eigentlich so bahnbrechend daran, zu behaupten, Erinnerungen fänden in der Gegenwart statt? Er sei kein abstrakter Regisseur, kein Nachdenker, bemerkt Mekas. Das stimmt.

Aber, wie Intendant Bernd Scherer an diesem Abend sagt: Sprache habe der gebürtige Litauer irgendwann hinter sich gelassen. Sein Exil in mehreren Ländern, während und nach dem Krieg, zieht sich durch alle seine Werke. In dieser Fremde habe er sich irgendwann nur noch mit der Kamera ausgedrückt. Und genau das sind auch die starken Momente dieses Abends – man kommt weg vom konzeptuellen Überbau.

„Die Kamera ist wie mein Körper. Man denkt und sieht mit seinem Körper“

Jonas Mekas

Vor allem die Ausschnitte aus „Walden: Diaries, Notes and Sketches“, die wie ein Filmtagebuch funktionieren und in den fünfziger Jahren in New York aufgenommen wurden, haben etwas Berauschendes. Hier fliegt man geradezu durch eine Welt von Menschen und Bildern, wobei die überhöhte Geschwindigkeit der Bildabfolge ein Schwindelgefühl erzeugt. Der Zuschauer rast durch diese verrückte Welt hindurch, die abwechselnd mit Tönen aus dem Alltag und mit psychedelischer, volkstümlicher oder gar klassischer Musik untermalt wird. „Die Kamera ist wie mein Körper. Man denkt und sieht mit seinem Körper“, beschreibt Mekas dieses intuitive Tagebuchfilmen.

Umso besser, dass bis zum 30. November Mekas Filme im Haus der Kulturen der Welt laufen. Für das Projekt „365 Days“ hatte Mekas ein Jahr lang täglich einen Kurzfilm ins Internet gestellt – diese laufen jetzt im Auditorium des HKW auf zwölf ­verschiedenen Bildschirmen und dürften zumindest nicht durch pseudoakademische Überlegungen an Charme verlieren – der Eintritt ist frei. 2016 wird das „Wörterbuch der Gegenwart“ unregelmäßig mit weiteren Veranstaltungen weitergeführt, als Serie innerhalb des vierjährigen Projekts „100 Jahre Gegenwart.“ Lea Fauth