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Jazz ist kein Stil, sondern eine Haltung

AKTUELLE MUSIK Das Kollektiv für Komponierte und Improvisierte Musik, KIM, präsentiert bei seinem 2. internationalen Festival aktuelle Musik zwischen Jazz, Neuer Musik und Singer-Songwriting

„Wenn Jazz als Haltung für Offenheit steht, kann man das Festival so nennen“

von FRANZISKA BUHRE

Wer an einer europäischen Musikhochschule Jazz studiert, lernt gemeinhin, sich auf eine Musikgeschichte und ihre in knapp 100 Jahren entwickelten Stilistiken zu beziehen, einen eigenen Ton auf dem Instrument oder in der Stimme zu finden und diesem in Improvisationen und eigenen Stücken Ausdruck zu verleihen. Das Genre Jazz bleibt dabei stets die Rahmung, bestimmt die Wahl der Mittel, die Bandkonstellationen, den Sound. Die bloße Festschreibung darauf entspricht aber nicht der Lebenswirklichkeit von MusikerInnen, die in den 1980er Jahren geboren sind. Ende der nuller Jahre macht es, unabhängig voneinander, in zwei Köpfen unter vielen klick: Der Schlagzeuger Max Andrzejewski begeistert sich für eine Konzertreihe in Berlin-Weißensee, bei der am gleichen Abend frei improvisierende MusikerInnen und ein Pop-Act präsentiert werden. Aus Köln, wo er studiert hat, kannte er solche Grenzüberschreitungen nicht, im österreichischen Graz hingegen steht die Vielfalt an musikalischen Stilistiken regelmäßig auf dem Programm des MusikerInnenkollektivs der Jazzwerkstatt.

Eine der Mitwirkenden ist Laura Winkler, die an der Grazer Kunstuniversität Gesang und Komposition studiert und bei dem US-amerikanischen Posaunisten, Komponisten und Arrangeur Ed Partyka das Handwerk für die große Form der Bigband lernt. Am Jazz-Institut Berlin (JIB) treffen Andrzejewski und Winkler auf Gleichgesinnte, die keinen Grund mehr dafür sehen, ihre Hörvorlieben von der eigenen Musikpraxis abzuspalten. John Hollenbeck, Schlagzeuger und Professor für Ensemble am JIB, gibt ihnen verspielte und strukturierte Techniken fürs Komponieren mit auf den Weg und bestärkt ihre Offenheit für Einflüsse aus allen denkbaren Ecken.

Andrzejewski gründet 2011 das Quartett „Hütte“, das mit einem fünfstimmigen Chor ein rasantes Album vorgelegt hat und nach wie vor furiose Konzerte gibt. Mit der demokratischen Formation „Expressway Sketches“ veröffentlichte er 2015 eine Hommage an die Surfmusik der Sixties, selbstverständlich mit Eigenkompositionen und improvisierten Heldenpassagen. Laura Winkler betreibt ab 2012 die Synthese von beschwingtem Musikantentum aus Folk, Pop und Jazz in ihrer Band „Holler My Dear“, ihr 12-köpfiges Wabi-Sabi-Orchester versammelt je zwei Holz- und Blechbläser für den Big-Band-Sound mit Geige und Bratsche sowie einer um Gitarre und Vibrafon erweiterten Rhythmusgruppe. Simon Kanzler, Vibrafonist und ebenfalls Absolvent des JIB, ergreift im Frühjahr 2014 die Initiative zur Gründung des KIM-Kollektivs. Von den zwölf MusikerInnen aus Deutschland, Italien, Kanada, Österreich und Schweden gestaltet jedeR einen Abend im Neuköllner Salon Tippel und lädt GastmusikerInnen ein. Auch untereinander gründen die Kollektiv-Mitglieder neue Bands.

KIM wurde zum Siegel für spannende Musik. Ihr Ziel, auch als VeranstalterInnen ein Zeichen zu setzen, gewann immer mehr Aufmerksamkeit. Beim ersten KIM-Festival vor einem Jahr kamen eigens dafür initiierte Projekte auf die Bühne, prominente Gäste aus New York zollten dem Kollektiv mit Konzerten ihre Anerkennung. So auch bei der zweiten Ausgabe des Festivals Anfang Dezember im Neuköllner Prachtwerk. Erstmalig präsentiert Hollenbeck sein Duo mit der norwegischen Sängerin Sissel Vera Pettersen, bevor er gemeinsam mit dem kongenialen Schlagzeuger Jim Black und drei Bassisten eine ekstatische Feier von Funkyness und Lautstärke ausrichtet. Am gleichen Abend sind neue Stücke von Winkler mit ihrem Orchester zu hören und der US-Trompeter Peter Evans wird solo zum kathartischen Höllenritt blasen.

Am zweiten Abend ringen in der Uraufführung der Hardcore Opera „Nodía Es“ von Simon Kanzler der Sänger Tobias Christl und drei Sängerinnen um die Vormacht in Kanzlers eigens erfundener Fantasiesprache, die Gitarristin und Synästhetikerin Johanna Weck­esser entwirft mit ihrem Instrument, Stimme und Laptop ein dunkel-melancholisches Set, das Neue-Musik-Ensemble „Mosaik“ bildet dazu einen Kontrast.

Zum Abschluss spielen KIM-Mitglieder mit Gästen, so stellt sich die Keyboarderin Liz Kosack dem „Lärm auf Speed“ von Schlagzeuger Oliver Steidle und Bassist Petter Eldh. Die gefeierte österreichische Singer-Songwriterin „Schmieds Puls“ gilt es danach unbedingt live zu entdecken. „Wenn man Jazz als Haltung für eine musikalische Offenheit begreift, dann kann man das Festival so benennen“, sagt Andrzejewski zum Programm. „Aber wenn man Jazz als Stilistik darüberstülpt, passt es nicht.“ Laura Winkler ergänzt: „Auch wenn Jazz der gemeinsame Nenner ist, passt der Begriff bei manchen Projekten nicht. Das ist Absicht. Besonders bei Live-Konzerten kann man die Leute mit Genre-Querschüssen abholen.“

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