Deutschland

Mit dem Massenmord von Paris verbreiten die Terroristen auch hier Angst. Beendet ihre Tat den liberalen Kurs in der Flüchtlingspolitik?

Politik mit Toten

REGIERUNG Die CSU instrumentalisiert die Attacken von Paris, um unverhohlen Ängste vor Flüchtlingen zu schüren. Die Kanzlerin hält bisher an ihrem Credo offener Grenzen fest. Kann sie diesen Kurs durchhalten?

Merkels Macht erodiert, langsam, aber stetig. Die Anschläge in Paris könnten den Prozess beschleunigen Foto: Kay Nietfeld/dpa

aus Berlin Ulrich Schulte

Angela Merkel hat schnell Worte gefunden, sehr schnell. Als die Kanzlerin am Samstagvormittag im Kanzleramt vor die Kameras tritt, sind die Anschläge in Paris noch nicht mal elf Stunden her. Merkel, ganz in Schwarz gekleidet, die Augen müde, betont die Werte der freien Demokratien in Europa.

Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, die Freude an der Gemeinschaft, Respekt vor dem anderen, Toleranz. „Wir wissen, dass unser freies Leben stärker ist als jeder Terror.“ Warmherzig und klug spricht die Kanzlerin, sie trifft den richtigen Ton nach einer fürchterlichen Nacht.

Merkel weiß, welche symbolische Wucht diese Anschläge haben. Die Terroristen verbreiten mit dem strategisch geplanten Massenmord Furcht in Deutschland, in Europa und in der ganzen westlichen Welt. Ihre Attacken zielen auf den Kern offener Gesellschaften. Sie drücken aus: Es kann jeden treffen, ihr alle müsst in Angst leben. Merkel hat sofort verstanden, was das für ihre Politik bedeuten kann.

Wird die Kanzlerin ihren liberalen Kurs in der Flüchtlingspolitik jetzt noch durchhalten? Oder gewinnen die Hardliner, die die deutschen Grenzen schließen wollen? Siegt der Verstand? Oder die Angst vor Fremden, vor Muslimen, vor Flüchtlingen? Fragen wie diese werden ab sofort die Innenpolitik bestimmen.

Wie zynisch Merkels Gegner den Terror für ihre Zwecke nutzen, zeigte sich ebenfalls schnell. Horst Seehofer, der seit Langem eine Obergrenze für Flüchtlinge fordert, stellt noch Samstag einen Zusammenhang her. Seehofer sagt, man müsse überlegen, durchgehende Kontrollen an den deutschen Grenzen wieder einzuführen. „Wir müssen wissen, wer bei uns ist und wer durch unser Land fährt.“

Markus Söder, der bayerische Finanzminister, der als Seehofer-Nachfolger gehandelt wird, formuliert das noch unverblümter. „Die Zeit unkontrollierter Zuwanderung und illegaler Einwanderung kann so nicht weitergehen“, sagt er der Welt am Sonntag. Zu glauben, dass sich kein einziger Bürgerkrieger unter den Flüchtlingen befinde, sei naiv. Es wäre gut, wenn Merkel einräumen würde, dass die zeitlich unbefristete Öffnung der Grenzen ein Fehler war.

Söders entscheidender Satz lautet: „Paris ändert alles.“ Ändert Paris alles?

Natürlich hat das eine – kaltblütig mordende Terroristen – nichts mit dem anderen – verzweifelten Flüchtlingen – zu tun. Die Hunderttausenden, die nach Deutschland kommen, fliehen ja gerade vor dem blutigen Irrsinn des Islamischen Staates. Ein gut organisiertes und finanziell schlagkräftiges Terrornetzwerk kann jederzeit Attentäter nach Deutschland schmuggeln, auch ohne Flüchtlingskrise. Hierzulande gibt es längst IS-Unterstützer, die die Sicherheitsbehörden beobachten.

Aber darum geht es jetzt nicht. Manchmal siegt in der Politik das Bauchgefühl über die Fakten. Manchmal geht es nur noch um Kurzschlusshandlungen, die Bauchgefühle bedienen. Seehofer, Söder und Co. haben die Pariser Anschläge in Rekordzeit für ihr Ziel instrumentalisiert, Merkel auf einen harten Kurs zu zwingen. Die AfD springt bereits auf den Zug auf, die Hetzer von Pegida sowieso.

Selbstverständlich gibt es Stimmen in der SPD, bei den Grünen und Linken, die sich gegen die Umdeutung der Attentate wehren. „Wir werden den freien Staat und die offene Gesellschaft nicht preisgeben“, twitterte zum Beispiel SPD-Chef Sigmar Gabriel. Eine Telefonschalte, in der sich führende Sozialdemokraten am Sonntag besprachen, brachte das Ergebnis: Für ein neues Sicherheitspaket gebe es keine Notwendigkeit.

Die Frage ist nun, wie sich Merkels eigene Partei verhält. Letztlich wird es von der Diskussion in der CDU abhängen, ob Merkel ihr Credo offener Grenzen durchhalten kann. Am Sonntag stellte sich der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch offen gegen die Kanzlerin. Gelinge es der Regierung nicht, Flüchtlinge an den Grenzen abzuweisen, würden die Bürger Merkel das Vertrauen entziehen. Willsch ist ein Einzelgänger, der schon gegen Merkels Griechenlandpolitik rebelliert. Aber er formuliert eine verbreitete Skepsis. Viele Christdemokraten blicken inzwischen verständnislos auf ihre Kanzlerin.Unter Sicherheitsbeamten ist unstrittig, dass das, was in Paris passierte, auch in Deutschland passieren könnte. Sprengstoff ist auf dem Schwarzmarkt zu bekommen, automatische Waffen auch. Wenn es Terroristen in Frankreich gelingt, eine konzertierte Aktion zu planen, ohne den Behörden aufzufallen – warum nicht auch hier? Berlin ist neben Paris die wichtigste europäische Hauptstadt.

Die Versuchung, der Angst in der Bevölkerung nachzugeben, ist für Politiker riesig. Schafft Merkel es, die eigene Partei hinter ihrer roten Linie zu versammeln? Ein Zeichen setzt Innenminister Thomas de Maizière, jener Mann, der das Kanzleramt zuletzt mehrmals mit eigensinnigen Aktionen düpierte. De Maizière äußert sich nach den Pariser Attentaten besonnen. Er spricht den Angehörigen sein Mitgefühl aus und schildert nüchtern, wie die Sicherheitsbehörden nun vorgehen.

Dann appelliert er an die Politiker und die Bevölkerung, „keinen Bogen“ zwischen den Anschlägen und der Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen zu schlagen. Das ist eine Absage an die CSU, de Maizière stellt sich an die Seite Merkels.

„Wir wissen, dass unser freies Leben stärker ist als jeder Terror“

Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU

Die Kanzlerin führt seit Wochen einen Abwehrkampf. Finanzminister Wolfgang Schäuble wandte sich mehrmals gegen sie. Ende Oktober korrigierte er Merkels wichtigsten Mann, Kanzleramtschef Peter Altmaier, in der Fraktionssitzung, als der die Lage in der Partei schönredete. Am Sonntag vor einer Woche lobte er den Vorschlag von de Maizière, den Familiennachzug zu begrenzen. Dann bezeichnete er die Flüchtlinge als „Lawine“. Lawinen, sagte Schäuble, entstünden, wenn ein unvorsichtiger Skifahrer Schnee lostrete.

All das sind Sticheleien gegen Merkel. Sie hat aus Schäubles Sicht die Lawine losgetreten.

Auch de Maizière wirkt, als agiere er längst auf eigene Faust. Mehrmals traf er Entscheidungen an Altmaier vorbei. Ein geplanter Putsch ist das wohl nicht, auch von einem Kontrollverlust der Kanzlerin kann noch keine Rede sein. Aber Merkels Macht erodiert langsam, aber stetig. Die Pariser Anschläge könnten diesen Prozess dramatisch beschleunigen.

Merkel ist Naturwissenschaftlerin, sie wuchs in der DDR auf. Aus ihrer Sicht wäre es politisch ein fatales Signal, würde Deutschland seine Grenzen mit Stacheldraht absichern. Sie hält Seehofers Ideen schlicht für realitätsfremd. Verzweifelte Menschen finden immer einen Weg. Die größte Volkswirtschaft in Europa, die ihren Reichtum dem Export verdankt, kann sich nicht abschotten. So argumentieren ihre Leute seit Beginn der Krise mantraartig.

Merkel bewegt sich ab sofort in einem neuen Spannungsfeld. Sie steht unter immensem Druck, außen- und innenpolitisch. Wenn Frankreich, der wichtigste Verbündete in Europa, beim Kampf gegen den IS um Hilfe bittet, wird sich Deutschland nicht entziehen können. Innenpolitisch sieht es nicht viel besser aus. Merkel braucht jetzt schnelle Erfolge bei der Begrenzung der Flüchtlingszuzüge. Schon allein, um einen humanitären Minimalkonsens verteidigen zu können.