Radikalisierung verhindern, Prävention als Mission: Wichtiger "Bildungsroman"
Kolumne
von Isolde Charim
Knapp überm Boulevard
Ahmad Mansour hielt am 13. November einen Vortrag in Wien. Er referierte über die Deradikalisierung muslimischer Jugendlicher nahezu zeitgleich mit den Attentaten in Paris. Dieses zeitliche Zusammenfallen macht das, was uns Ahmad Mansour zu sagen hat, zugleich hoffnungsloser und dringlicher.
Der Psychologe hat ein Buch über seine Arbeit mit muslimischen Jugendlichen geschrieben, über jene, die anfällig sind für islamistische Inhalte, anfällig für eine schleichende Radikalisierung. Der Begriff „Generation Allah“, den er für diese prägte, mag umstritten sein. Seine Präventionsarbeit und seine Expertise sind wesentlich. Denn Sicherheitspolitik alleine reicht nicht aus. Es gilt, diese Jugendlichen, die die lokale Basis des muslimischen Radikalismus bilden, zu erreichen, zu retten. Vor ihrer möglichen Radikalisierung. Das ist Ahmad Mansours Mission.
Sie entspringt seiner eigenen Biografie. Mansour ist israelischer Palästinenser. Wie kommt ein Muslim dazu, über die „Generation Allah“ zu schreiben? In einem teils islamophoben Umfeld Kritik am Islam zu äußern? Wie geht es, dass ein palästinensischer Israeli gegen islamischen Antisemitismus auftritt?
Wir fordern immer von Muslimen, sie müssten sich distanzieren. Not in my name. Wir fordern immer eine muslimische Aufklärung, eine Liberalisierung des Islam. Aber wir übersehen bei diesen Forderungen, wie schwierig das ist. Das heißt nicht, es weniger zu fordern, sondern genauer zu verstehen, was es bedeutet.
Ahmad Mansour war selbst zwischen 13 und 18 Jahren Islamist. Nicht gewalttätig, aber Islamist. Radikalisiert in einer Koranschule in Israel. Mansour erzählt genau, wie das funktioniert: welche komplexe psychische Struktur zwischen Ermächtigung eines Ausgegrenzten und Unterwerfung unter einen rigiden Gruppenzwang das bedeutet. Wie hier mit Angstpädagogik und Feindbildern operiert wird. Eine verlockende Anrufung. Zentral ist, wie Mansour sich davon befreit hat. Eine wichtige Erzählung, gerade heute. Ein dringlicher „Bildungsroman“.
Mit 18 ging Mansour nach Tel Aviv. Dort studierte er, in „einer Zeit der Hoffnung“, Psychologie. Aber das allein reichte nicht aus. 2004 wurde er Zeuge eines palästinensischen Terroranschlags. Und in diesem Moment beschloss er: „Das ist nicht mein Kampf.“ Er verließ Israel und ging nach Berlin.
Man muss verstehen, was für ein mächtiges Ereignis das ist. Das Attentat war für ihn nicht das, was man erwarten würde – es war keine Anrufung, sich einzuordnen in die Reihen der „Eigenen“, sich der „eigenen“ Sache anzuschließen. Es war vielmehr das Gegenteil. Es brachte ihn dazu, sich abzuwenden von dem, was das „Eigene“ sein sollte, sich dem Zugriff der eigenen Gruppe zu entziehen. Aber diese Darstellung ist noch nicht ausreichend. Denn es geht nicht nur um einen äußeren Druck. Viel schwieriger ist es, den inneren Druck abzuwehren. Sich dem Zugriff des eigenen Heiligen zu entziehen. Denn Gruppe, Familie, Identität sind ja nicht nur äußere Instanzen, sondern existieren in uns. Das, was für die eigene Gruppe das Heilige ist, wirkt in jedem ihrer Mitglieder – lässt es erschauern, ergreift es.
All das muss man im Auge haben, wenn wir von Gegennarrativen reden. All das muss man im Auge haben, wenn wir Gegenanrufungen fordern. Es ist dies ein sehr schwieriger Vorgang, ein großer Schritt zu sagen: Das ist nicht mein Kampf. Das ist übrigens der Kern des Pluralismus: die Möglichkeit einer anderen Anrufung. Das ist auch der Kern der Domestizierung jeder Religion: deren partielle Säkularisierung.
Nur so, nur partiell säkularisiert, konnte Mansour den Schritt vom Fundamentalismus zur Moderne machen. Nur so kann er als Muslim gegen die islamistische Radikalisierung und gegen den muslimischen Antisemitismus auftreten. Nur so kann er versuchen, radikalisierte Jugendliche vor den Lockungen des Radikalismus zu retten. Wir sagen so leicht: Es braucht eine Liberalisierung des Islam. Der Preis ist hoch. Den ehemals „Eigenen“ gilt er als Verräter. Und wird mit dem Tode bedroht.
Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien
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