Scheitern als Chance

BILANZ Leipzig unterlag bei der Bewerbung um Olympia 2012 und profitierte dennoch: Das Stadtmarketing schwärmt immer noch

von Michael Bartsch

Hamburg hätte Grund, Leipzig einiges nachzutragen. Im April 2003 unterlag die Weltstadt im Norden dem ehrgeizigen sächsischen Konkurrenten bei der Nominierung des deutschen Olympiakandidaten für 2012. In schöner Gesellschaft mit Düsseldorf, Frankfurt und Stuttgart. Aber Hamburg kann sich in Leipzig auch abschauen, wie man den Trauerfall, der in der zweiten Runde dann auch für die Sachsen eintrat, überlebt und trotzdem wenigstens ein bisschen profitiert. Denn ein Jahr später im Mai 2004 überstand Leipzig die internationale Vorauswahl nicht. „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine halbe Nummer zu groß für Leipzig“, kommentierte der damalige IOC-Vizepräsident Thomas Bach.

Aber es ist bekanntlich nichts so schlecht, um nicht doch für etwas gut zu sein. Dem Sprecher der Leipziger Tourismus- und Marketing GmbH (LTM), Andreas Schmidt, ist auch nach zehn Jahren noch Begeisterung anzumerken, wenn er auf die Olympia-Bewerbung und ihre Folgen angesprochen wird. „Das war in jedem Fall gut, auch wenn wir tragischerweise den Anforderungen nicht entsprechen konnten“, stellt er rückblickend fest. Als Öffentlichkeitsarbeiter schwärmt er geradezu von Pressereisen mit mehr als 40 Teilnehmern damals, eine Resonanz, die er seither nicht mehr erlebt hat. Bis heute halten die damals geknüpften Journalistenkontakte. Ein Sympathiebonus sei mit der Bewerbung auf jeden Fall verknüpft gewesen, meint Schmidt.

Zu Beginn der 2000-er Jahre spielten Emotionen und ostdeutsche Befindlichkeiten ohnehin eine Rolle, wie sie so mit Hamburg heute nicht vergleichbar sind. Aus westdeutscher Sicht war der Osten immer noch die Terra incognita, wo „nicht viel lief“, wie Schmidt sagt. Sogar die Messestadt Leipzig mit ihren reichen geistigen und kulturellen Traditionen hatte damit zu kämpfen. Die ehrgeizige Olympia-Bewerbung der führenden Sportstadt der ehemaligen DDR holte die Ost-Länder etwas aus der Defensive. „Plötzlich erschienen wir auf der internationalen Landkarte“, erklärt der LTM-Sprecher selbstbewusst.

Als der damalige Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee bei der innerdeutschen Entscheidung in München den Kanon „Dona nobis pacem“ auf dem Cello spielte, klang das wie eine Beschwörung des Geistes von 1989. Dennoch hatten inzwischen die Kehrseiten der Marktwirtschaft auch Leipzig längst eingeholt. Eine Fülle von politischen und finanziellen Skandalen während der Bewerbungszeit beschäftigte die Staatsanwaltschaften und den sächsischen Landtag noch Jahre danach. Und bei aller Euphorie der Leipziger und trotz der Spendenbereitschaft des Mittelstands wird leicht vergessen, dass es kurz vor der IOC-Entscheidung 2004 auch eine Demonstration von Olympiagegnern gab.

Unbestreitbar bleiben indessen nicht nur gefühlte Bekanntheits- und Imageverbesserungen, sondern messbar positive Effekte auf die Stadtentwicklung. Mit Mitteln von Bund und Land aus dem „Olympia-Sofortprogramm“ wurden ohnehin fällige Infrastrukturmaßnahmen vorgezogen. Etwa 100 Millionen Euro sollen in die Straßen- und Wohnungssanierung oder in die Gleiserneuerung für die Straßenbahn geflossen sein. Zwei Investitionen in Sportstätten zahlen sich bis heute aus. Der Kanu-Park Markleeberg ist die modernste künstliche Wildwasseranlage Europas. Sie wird sowohl von Touristen als auch von Sportlern genutzt. Und eine Halle in der Stadtmitte wird von den Bundesstützpunkten für Judo und Leichtathletik genutzt.

Die Olympia-Bewerbung hat bei Gästezahlen und Übernachtungskapazitäten einen Zuwachs stimuliert, paradoxerweise ein Feld, auf dem die Bewerbung mangels ausreichender Bettenzahlen auch zu Grabe getragen wurde. Seit neun Jahren verzeichnet Leipzig rekordverdächtige Steigerungen, die natürlich nicht allein auf den vorausgehenden Olympia-Hype zurückzuführen sind. Im Vorjahr übernachteten mit 2,7 Millionen Gästen doppelt so viele Besucher wie im Jahr 2000, zwei Millionen Geschäftsleute kommen hinzu. Im Sachsenvergleich steht jedes vierte Gästebett in Leipzig, und das bei der starken Dresdner Konkurrenz. „Jetzt wachsen wir vernünftig“, konstatiert Marketingexperte Schmidt. Für den Fall eines Bewerbungserfolgs hätte er einen ungesunden Bauboom und explosionsartigen Zuwachs an Hotelkapazitäten erwartet.

2012, als die Spiele statt in Leipzig in London ausgetragen wurden, blickte der ehemalige Oberbürgermeister Tiefensee noch einmal zurück. Im Deutschlandfunk würdigte er die nachgewiesene Fähigkeit der Leipziger, sich für ein Ziel kreativ anzustrengen, zu begeistern. „Die schlummert vielleicht ein wenig jetzt, aber an diese Kraft kann man anknüpfen.“