piwik no script img

Vor 75 Jahren Bereits 1940 organisierten die Nazis Massendeportationen von Juden und Jüdinnen. Und zwar in Baden und in der Pfalz. Die Menschen wurden in ein Lager in Südfrankreich gebrachtEs war helllichter Tag

Insassen des Israelitischen Krankenhauses von Gailingen wurden zur Deportation nach Gurs abgeholt

von Eberhard Hübner

Es war am 22. Oktober 1940, morgens gegen 9 Uhr, als es schrill an unserer Hausglocke läutete“, schreibt die Kinderärztin Else Liefmann. „Gleich darauf hörten wir Männerstimmen, und schon standen zwei Leute in unserem Zimmer: ‚Machen Sie sich fertig, in einer Stunde haben Sie das Haus zu verlassen. Sie können mitnehmen, was jeder tragen kann.‘ Auf unsere bestürzte Frage, was denn mit uns beabsichtigt sei, zuckten sie die Achseln.“ So beginnt Liefmanns Bericht über die Vertreibung aus ihrer Heimatstadt Freiburg im Breisgau.

Die beiden Männer waren Gestapobeamte, die gekommen waren, um sie und ihre Geschwister abzutransportieren: ihre Schwester Martha und ihren Bruder Robert, einen renommierten Wirtschaftswissenschaftler, der 1933 aus dem Universitätsdienst entlassen worden war, weil er – wie auch seine Schwestern protestantisch getauft und erzogen – für die ­Nazis Jude war.

Was vor 75 Jahren nicht nur die Geschwister Liefmann so unvorbereitet traf, war die erste große Deportation von deutschen Juden auf „reichsdeutschem“ Gebiet. „Der Führer ordnete die Abschiebung der Juden aus Baden […] und […] aus der Pfalz an“, schrieb Gestapo-Chef Heydrich ein paar Tage später in einem Brief an das Auswärtige Amt. „Nach Durchführung der Aktion kann ich Ihnen mitteilen, dass aus Baden am 22. und 23.10. 1940 mit 7 Transportzügen und aus der Pfalz am 22.10.1940 mit 2 Transportzügen 6405 Juden in den unbesetzten Teil Frankreichs […] gefahren wurden.“

Trotz umfangreicher Vorbereitungen war es der Gestapo gelungen, ihre Pläne geheim zu halten. In den frühen Morgenstunden drang die Polizei in die Wohnungen der Juden ein und fuhr sie zu Sammelplätzen, um sie danach in bereitgestellte Züge zu verfrachten. In der Zeit, die ihnen gelassen wurde, begingen mehrere Menschen Selbstmord. Else Kotkowski, die Sekretärin der Israelitischen Gemeinde in Karlsruhe, erinnert sich: „Ich hörte, dass zwei Frauen versucht hätten, dem Transport durch Einnahme von Gift zu entgehen. Man brachte beide sofort ins Krankenhaus und pumpte ihnen den Magen aus. Eine, die dann transportfähig war, kam dann zur Bahn, die andere blieb zurück.“ Karl Rosenthal, Inhaber eines Karlsruher Teppichhauses, erschoss sich in seiner Wohnung. „Seine hochbetagte Mutter“, so erzählt ein Überlebender, „hat in dem Deportationszug überall nach ihrem Sohn gesucht. Wir wussten in der Zwischenzeit, dass er Selbstmord begangen hatte, haben es der alten Frau aber nicht gesagt.“

„Die Abschiebung der Juden“ schrieb Heydrich, „ist in allen Orten Badens und der Pfalz reibungslos abgewickelt worden. Der Vorgang der Aktion selbst wurde von der Bevölkerung kaum wahrgenommen.“ Tatsächlich sahen die Behörden keinen Anlass, die Öffentlichkeit zu scheuen. Die Deportationen fanden bei Tage, vor aller Augen statt; Sammelstellen waren fast immer zentrale Orte, in Heidelberg der Marktplatz, in Karlsruhe der Osteingang des Hauptbahnhofs.

Die zurückgelassenen Wohnungen wurden von der Polizei versiegelt und dann nach Wertgegenständen durchsucht. Das Land Baden beschlagnahmte zunächst alles, musste dann aber einem Einspruch von übergeordneten Reichsbehörden weichen, die selber von diesem Raubzug profitieren wollten. Die Villa der Liefmanns zum Beispiel brachte die Gestapo in ihren Besitz und richtete dort eine Dienststelle ein. Was die staatlichen Stellen übrig ließen, wurde einige Wochen später öffentlich versteigert.

„Trotz aller Sturmzeichen hatte man doch nie an eine Deportation von Tausenden und Abertausenden von Juden und sog. Juden nur im Entferntesten gedacht“

Martha Liefmann

Dass die rechtmäßigen Besitzer niemals mehr zurückkehren würden, war offenbar allen Beteiligten klar. Der Brief eines Hitlerjungen aus Korb bei Stuttgart vom Dezember 1940 drückt das ganz treuherzig aus: „Mein Führer! […] Die Juden wurden mit einem Sonderzug abgeführt und sie kommen nie wieder zurück. So wie man hört, gehören die Häuser dem Staat. Darum möchte ich Sie bitten, mein Führer, ob Sie vielleicht eins für uns zum Kauf bestätigen können. […] Heil Hitler!“

„Trotz aller Sturmzeichen hatte man doch nie an eine Deportation von Tausenden und Abertausenden von Juden und sog. Juden nur im Entferntesten gedacht“, schreibt Martha Liefmann in ihren Erinnerungen und artikuliert damit jenen Rest von Sicherheitsgefühl, mit dem gerade das Bildungsbürgertum das drohende Abrutschen ins Schlimmstmögliche zu ignorieren versuchte.

Dabei hatte es schon vor dem Oktober 1940 vereinzelte Deportationen gegeben; in erster Linie ging es den Nazis bis zum Beginn des Krieges aber noch darum, die Juden zur Auswanderung zu drängen, und um ihre damit verbundene Ausplünderung.

Das änderte sich nach den ersten Eroberungen im Osten. Man dachte jetzt über großangelegte Umsiedlungen nach und über ein Judenreservat bei Lublin. Den Gedanken eines Reservats griff auch der sogenannte Madagaskarplan auf. Diese abstruse Idee aus dem 19. Jahrhundert sah vor, dass man ein internationales Judengetto in einer der überseeischen Kolonien der europäischen Mächte anlegte, zum Beispiel eben in Madagaskar.

Der Sieg über Frankreich gab die Idee starken Auftrieb. Wie vage auch immer solche Gedanken gewesen sein mögen: Die Oktoberdeportation 1940 folgte noch nicht dem Ziel der endgültigen Vernichtung der Juden – die Entscheidung dazu fiel erst später, nach dem Angriff auf die Sowjetunion –, sondern geschah im Horizont solcher Pläne.

Es waren die beiden Gauleiter von Baden und der Pfalz, Robert Wagner und Josef Bürkel, die hier Fakten schufen. Hitler selber hatte ihnen dafür eine Art Freibrief gegeben. Er erwarte von seinen Gauleitern, so sagte er am 25. September, „nach zehn Jahren nur eine Meldung […], nämlich, dass ihr Gebiet deutsch und zwar rein deutsch sei. Nicht aber werde er danach fragen, welche Methoden sie angewandt hätten, um das Gebiet deutsch zu machen.“

Deportation nach Gurs – am Sammelplatz wurden Gailinger Juden vor den Augen ihrer Nachbarn auf Lastwagen verladen Fotos: Jüdisches Bürgerhaus Gailingen

Zehn Jahre aber wollten die ehrgeizigen Männer nicht warten. Sie legten die vagen Anweisungen Hitlers sofort radikal aus und konnten so den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, als erste ihre Gaue „judenrein“ gemacht zu haben.

Die Züge mit den badischen und Pfälzer Juden fuhren bei Chalons-sur-Saône über die Demarkationslinie in das unbesetzte Vichy-Frankreich. Die französischen Behörden waren ganz unvorbereitet und wussten nicht, was sie mit den Tausenden von Menschen anfangen sollten. Mehrfach protestierten sie beim deutschen Auswärtigen Amt, ohne dass dieses es für nötig befand, darauf einzugehen. In den Zügen merkte man erst allmählich, dass die deutschen Bewacher verschwunden waren. „Alle atmeten auf. Nun konnten die Fenster geöffnet werden, die vorher unter Androhung des Erschießens geschlossen gehalten werden mussten“, schreibt Else Liefmann.

Als einer der Züge in Lyon hielt, stieg eine Frau einfach aus, um ihre Schwester, die dort wohnte, aufzusuchen; der Transport fuhr weiter ohne sie.

Auf dem Bahnhof von Toulouse vertrat sich Professor Liefmann die Beine, als der Zug plötzlich losfuhr. Seine Schwester zog die Notbremse, damit ihr Bruder wieder zusteigen konnte. „Ich habe mich später gefragt“, schreibt sie, „ob es nicht richtiger gewesen wäre, den Zug ruhig abfahren zu lassen.“

Aber im unbesetzten Frankreich hätte sich Professor Liefmann kaum frei bewegen können: Ein Gesetz vom 4. Oktober gab den Departementpräfekten die Vollmacht, alle ausländischen Juden verhaften zu lassen.

Marsch der Gailinger Juden zum Sammelplatz – ein Handkoffer und etwas Geld durfte mitgenommen werden

Am 24. und 25. Oktober kamen die Transportzüge mit den Juden aus Baden und der Pfalz an der kleinen Bahnstation Olo­ron-­Sainte-­Marie am Fuße der Pyrenäen an. Lastwagen fuhren die Menschen in das wenige Kilometer entfernte Lager Gurs.

Das „Camp de Gurs“ war 1939 als Auffanglager für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Spanien errichtet worden. Im Mai 1940, als die deutschen Truppen in Frankreich eindrangen, wurde es eines der vielen Lager, in denen die französischen Behörden die deutschen Emigranten, die zuvor nach Frankreich geflohen waren, als „feindliche Ausländer“ internierten: Hannah Arendt etwa, Marta Feuchtwanger und Dora Benjamin, die Schwester des Philosophen, die Tänzerin Tatjana Barbakoff, die Sänger Ernst und Eva Busch, die Malerin Charlotte Salomon, die Fotografin Ilse Bing und viele andere jüdische Künstler, Künstlerinnen und Intellektuelle wurden hier zeitweise interniert.

Das Lager, so wird berichtet, war nach der Ankunft der deportierten Juden aus Baden und der Pfalz vollkommen überfüllt. Es bestand aus einer ungefähr zwei Kilometer langen Asphaltstraße, an die rechts und links Barackenblocks gebaut waren. In eine Baracke passten ungefähr 60 Menschen, die anfangs auf dem nackten Holzfußboden schlafen mussten. Fenster gab es nicht, nur ein paar Luken, die im Winter kaum geöffnet werden konnten. Vor allem die Winternächte sollen eiskalt gewesen sein.

Auch die Ernährung war völlig unzureichend: Wassersuppe, Tee, ein bisschen Brot. Der Kommandant des Lagers, dem für jede Person 12 Francs pro Tag zur Verfügung standen, rühmte sich, diesen Betrag nicht ausgeschöpft und so dem Staat Mil­lio­nenbeträge gespart zu haben.

Fotos: Dorothee Freudenberg

In allen Berichten aus Gurs ist vom Schlamm die Rede. Da der Boden nicht befestigt war, weichte die Erde, wenn es regnete, vollständig auf. „Es gab Tage, an denen man im Matsch versank. Bei jedem Schritt musste man den Schaft des Gummistiefels mit beiden Händen fassen und aus dem zähen Schlamm herausziehen, um den Fuß zum nächsten Schritt vorsetzen zu können.“

Die hygienischen Zustände waren katastrophal. Dazu kam das Ungeziefer: Läuse, Flöhe, Wanzen, Ratten. Unter diesen Umständen starben in den ersten vier Monaten des Aufenthalts in Gurs über tausend Menschen, hauptsächlich an Darmkrankheiten. Glücklicherweise war der Postverkehr erlaubt. Unzählige Briefe verließen das Lager, in denen Verwandte, Freunde, offi­zielle Stellen um Nahrung, Kleidung, Geld oder Einflussnahme bei Behörden angefleht wurden. Dabei war die Hilfe von Privatpersonen durch alle möglichen Vorschriften behindert.

Etwas leichter hatten es die Hilfsorganisationen. Sie versuchten, durch Geld- und Lebensmittelspenden die Not zu lindern, und schickten Ärzte und Krankenschwestern.

Unter bestimmten Bedingungen konnte man das Lager verlassen. Bei besonderen Krankheitsfällen oder hohem Alter zeigte sich die französische Verwaltung bereit, gegen einen höheren Betrag die Menschen an Orten in der Nähe von Gurs wohnen zu lassen. Den Geschwistern Liefmann gelang es im März 1941, eine solche „Liberierung“ zu erreichen. Nach einer Woche aber starb Professor Liefmann; zwei Tage später erhielt er eine Berufung an eine New Yorker Universität, die ihm vermutlich eine Auswanderung ermöglicht hätte.

Martha Liefmann erkämpfte sich im April eine der seltenen Einreisegenehmigungen für die Schweiz. Else Liefmann musste bis September 1942 in Frankreich bleiben. Dann wurde die Situation für sie so bedrohlich. dass sie – 61jährig – zu Fuß auf unwegsamen Gebirgspfaden über die Alpen in die Schweiz floh, die mit allen Mitteln die Einwanderung von deutschen Juden zu verhindern suchte. Es waren ortskundige Schleuser, die sie zuletzt über die streng bewachte Grenze brachten. „Keine sehr ehrenhafte Tätigkeit, sofern sie sich von den Verfolgten bezahlen ließen“, so schrieb sie später. „Aber sie war auch für die „Passeure“ nicht ohne Gefahr. Man war auf diese Leute angewiesen. Alleine hätten wir den Weg nicht gefunden.“

Auf diese Weise überlebte etwa ein Viertel der nach Gurs deportierten Juden: Sie konnten legal oder illegal aus Frankreich entkommen oder wurden – wie vor allem viele Kinder – von der französischen Bevölkerung versteckt. Ein weiteres Viertel starb noch in Frankreich. All die anderen Deportierten aber wurden von Juli 1942 an, noch bevor die freie Zone Frankreichs von den Deutschen besetzt wurde, über das Sammellager Drancy bei ­Paris nach Auschwitz oder ­Majda­nek verschleppt und bis auf wenige dort ermordet.

Die Schwestern Liefmann, die sich hatten retten können, lebten bis zum Tod in der Schweiz. Als ihnen nach dem Krieg der deutsche Generalkonsul in ­Zürich anbot, ihre deutschen Pässe zu verlängern, lehnten sie ab.

Die Zitate stammen aus dem von Erhard R. Wiehn herausgegebenen Sammelband über die „Oktoberdeportation 1940“, dem Aufsatz von Jacob Toury über die „Entstehungsgeschichte des Austreibungsbefehls“, dem Erinnerungsbuch von Martha und Else Liefmann, „Helle Lichter auf dunklem Grund“, und den Briefen der Geschwister Liefmann aus Gurs, die unter dem Titel „Abgeschoben“ von Dorothee Freudenberg herausgegeben wurden.

Weitere Literatur: Gabriele Mittag, „Es gibt Verdammte nur in Gurs. Literatur, Kultur und Alltag in einem französischen Internierungslager 1940–1942“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen