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Schreiben können sie alle, irgendwie

Literatur Als am Sonntag der 23. Open Mike im Heimathafen Neukölln zu Ende ging, hatten die frischen, jungen Texte verloren

Schwere handwerk­liche Fehler fehlen, viele Kandidaten sehen sich bereits als Autoren

von Angela Leinen

Wenn im Heimathafen Neukölln der Open Mike stattfindet, dann ist der Saal voller Hoffnung: Die 20 jungen Finalisten hoffen aufs Entdecktwerden, die Agenten, Lektoren und Verleger auf Entdeckungen. Der meist erste große Auftritt ist womöglich wichtiger als die Preise, die am Ende vergeben werden.

Die beiden Prosa-Preise der Jury gingen dabei an Theresia Töglhofer für ihren Text „Das wahre Leben“ und an Jessica Lind für die Erzählung „Mama“. Den Lyrikpreis erhielt Andra Schwarz für ihre Gedichte aus der Oberlausitz. Der Preis der taz-Publikumsjury – verbunden mit einer Veröffentlichung des Textes in der taz – ging nach schwierigen Verhandlungen an Philip Krömer für seinen spielerischen Text „der eine der andere“. Ausgeschüttet werden insgesamt 7.500 Euro Preisgeld, gestiftet von der Crespo-Foundation. Ausgerichtet wird der Wettbewerb von der Literaturwerkstatt Berlin.

Vorhersehbar war das nicht, es gab keine Favoriten. Zu unterschiedlich waren die Texte, und keiner überwältigend. Ausgezeichnet wurden dann Texte, die weder jung noch frisch waren: Theresia Töglhofers „Das wahre Leben“ erzählt von einem Paar, das (grob überschlagen) 62 Wochen pro Jahr unterwegs sein muss („18 Fernreisen, 35 ­Mittelstreckendestinationen, ansonsten Europa“). Dazwischen Arbeit und ein Rest soziales Leben. Sehr abgeklärt abgehandelt, ohne rechtes Ziel und in allzu bekannten Bildern.

Jessica Lind erzählt in „Mama“ von der körperlichen und seelischen Irritation einer Schwangeren über das fremd-eigene Leben in ihrem Bauch, von einem unheimlichen Ausflug ins Magische oder an die Ränder der Vorstellung, nicht leicht verständlich, aber in kraftvollen Szenen.

Der Preis für Lyrik ging an Andra Schwarz. Ihre Gedichte sind formal unauffällig, schaffen aber eine neblig-kühle Atmo­sphäre, die Schwarz der Durchfahr-Landschaft ihrer Heimat im polnischen Grenzgebiet zuschreibt.

Viel auffälliger unter den Lyrikern waren Tobias Lewkowicz’Sprach-Stücke, die sich immer wieder neu zusammensetzen lassen und so als Texte erst beim Lesen entstehen. Lewkowicz führte das vor, indem er das erste Gedicht am Ende als Coda noch einmal von unten nach oben aufbaute. Sie enthielten starke Bilder unter anderem für ein Ost-West-Familienleben, fast mehr erzählend als lyrisch.

Der Open Mike ist seit 1993 Bühne für Nachwuchsautoren. Mit Blick auf die Liste früherer Teilnehmer und Gewinner (etwa Kathrin Röggla, Karen Duve, Julia Franck und Zsuzsa Bànk) lässt sich ahnen, wie viel Hoffnung für junge Autoren an einer Open-Mike-Teilnahme hängt.

Jurorin Terézia Mora („Das Ungeheuer“) war selber 1997 Preisträgerin des Open Mike, Juror Jan Brandt („Gegen die Welt“) war im Jahr 2000 Teilnehmer – ohne Preis. In diesem Jahr bildeten beide mit dem Schweizer Lyrik-Spezialisten Klaus Merz die Jury des Open Mike. Bis auf die knapp gehaltenen Laudationes erfährt man nichts über die Wertungen, nur die Entscheidung sei „einhellig“ gewesen.

Das war bei der taz-Publikumsjury nicht so: Maximal zwei Stimmen seien in der ersten Abstimmung auf einen Autor gefallen. Ausgezeichnet wurde dann ein sehr artifizieller Zeitreise-Text des Erlangers Philip Krömer über eine Begegnung des Wiener Sprachkünstlers H. C. Artmann mit dem Massenmörder Haarmann.

Wenn die erste Lesung beginnt, ist die ärgste Arbeit längst getan: Sechs Lektorinnen und Lektoren (in diesem Jahr Sabine Dörlemann, Sandra Henrici, Doris Plöschberger, Andreas Rötzer, Christiane Schmidt und Reto Ziegler) wählen aus den 600 anonymisierten Einsendungen die aus, die es auf die Bühne schaffen. Jeder Lektor, jede Lektorin bekommt dafür einen Stapel von 100 Texten zugelost. Lektorin Christiane Schmidt hat diesen Job schon öfter gemacht. In diesem Jahr war ihr Stapel „Auf jeden Fall einladen“ zunächst leer geblieben. Ihre Auswahl traf sie aus dem „Vielleicht“-Stapel. Das sei viel schwieriger. Und schließlich handle sich um Anfängertexte.

Von „Anfängertexten“ war bei Jurorin Terézia Mora keine Rede: „Wer hier herkommt, kann es bereits“, sagte sie zur Preisverleihung und sprach vom „hohen Reifegrad“ der Texte.

Schreiben können sie ja auch alle irgendwie. Schwere handwerkliche Fehler gibt es nicht mehr, viele Kandidaten studieren an Literaturinstituten oder lehren sogar dort, wie Finalist Paul Klambauer in Hildesheim. Die meisten sehen sich also bereits als Autoren.

Man müsste nur auch etwas zu erzählen haben. Wenn es daran fehlt, schreibt man halt „Metafiktion“: Vier von 20 Texten beschäftigten sich mit dem Schreiben. Darunter allerdings auch der mitreißendste Auftritt dieses Open Mike: Die Judo-Leistungssportlerin Hilde Drexler aus Wien begann den Wettbewerb temperamentvoll mit einer Satire über einen Schreibprozess, bei dem der Wald schon brennt, bevor über das Genre entschieden ist („… keine politische Aktualität, kein moralischer Zeigefinger, keine Körperflüssigkeiten, also keine Literatur, KEI-NE LI-TE-RA-TUR, Fantasy …). Eher ein Lesebühnentext, aber ein toller erster Auftritt.

Die frischen, jungen Texte gingen leider unter: Felix Krackes Skater-Geschichte „Bist’n good boy, Matze“ hat Sound und Rhythmus und Melancholie, und Bettina Wilperts „Alex, Selfie“ erzählt eine moderne Transsib-Geschichte, inklusive überzeugender Verwendung von ­Instagram-Hashtags.

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