Der Seelenbrei

LÜGEN In „Lüge als Prinzip“ durchkämmt Wolfgang Engler die Kulturgeschichte nach den Ursprüngen des Authentizitätsgebots

Sobald Menschen sich vergesellschaften, stürzen sie in die Fänge des Betrugs

VON KAI SCHLIETER

„Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus“ heißt das neue Buch des Soziologen Wolfgang Engler. Inhaltlich bleibt der Titel jedoch selbst ein Versprechen, das nicht eingelöst wird, ein schlapper Kaufanreiz. In der Abhandlung wird der Kapitalismus auf wenigen Seiten lediglich gestreift, vom prinzipiellen Lügen findet sich kaum etwas.

Der Autor tänzelt kunstvoll um das Phänomen der Aufrichtigkeit. Er durchdringt das Thema assoziativ, widmet sich dem Markt, der Sprache, der Umgangsformen, der Erziehung, der Wissenschaft und der Arbeit. Das sind plausible Schnittstellen für eine essayistische Auseinandersetzung mit der Aufrichtigkeit. Gleich zu Beginn beschreibt Engler, wie er als junger DDR-Wissenschaftler 1987 nach Klagenfurt fahren und an der dortigen Universität einen Vortrag halten darf. Sein Thema: „Die Konstruktion von Aufrichtigkeit. Zur Geschichte einer verschollenen diskursiven Formation“. Inspiriert von Michel Foucault sehen die westdeutschen Zuhörer jedoch keinen Wissenschaftler vor sich. Für sie steht dort ein Dissident, für den sein Thema nur ein Vehikel ist, tatsächlich, meinen sie, kritisiert er die DDR-Diktatur. Sie hören einen Vortrag zwischen den Zeilen. Engler aber sagt, was er meint – in der Kommunikation eine nicht immer vorhandene Übereinstimmung, die – und hierin besteht ja die Schwierigkeit – manchmal mit Aufrichtigkeit verwechselt wird.

So lässt sich dieser Exkurs zur frühen Entstehungsgeschichte des Buches sprachphilosophisch lesen. Aber auch als Anekdote über das Land der Ostdeutschen, wo „aufrichtiges Sprechen und Handeln zu den Kardinaltugenden des anständigen Bürgers“ zählte. Für das Verständnis der DDR ist Engler seit „Die Ostdeutschen – Kunde von einem verlorenen Land“ wichtig geworden. Der soziologische Literat findet über den Tellerrand der Disziplin hinaus Zustimmung.

„Texte als Nichttexte zu inszenieren, vorgetäuschte kulturelle Armut, das passte zu einer sozialen Welt, in der die Herrschenden mal im Talar einherstolzierten und mal im Dress des Schäfers unter Bäumen lungerten“, schreibt er über die DDR. Hier gab es keine Teilbereiche, die autonom agieren und eine Systemlogik ausbilden konnten: die Partei durchdrang alles. Das ist das Gegenteil einer differenzierten Gesellschaft, deren Erfolgsgeheimnis gerade „die Entmoralisierung ihrer wichtigsten Funktionssysteme, ihre Abkopplung vom ganzen Menschen und seinem Seelenbrei“ auszeichnet, meint Engler. Eine Voraussetzung des Wettbewerbs und damit der Märkte.

Im leider nur kurzen Abschnitt über Letztere zeichnet Engler eine sehr treffende Skizze des modernen Finanzjongleurs, „als Unternehmer ohne Unternehmen, ortlos, bindungslos“. Der liebe das Rätsel, vergöttere Labyrinthe, „und wer behauptet, er ließe sich bei seinen Entscheidungen ausschließlich von rationalen Gründen leiten, erntet spöttisches Gelächter“.

Zu Zeiten der höfischen Gesellschaft, die dank Norbert Elias bis in den hintersten Winkel ausgeleuchtet wurde, galt noch: „Wer die Einheit von Mund und Herz im gesellschaftlichen Verkehr ohne Abstriche praktiziert, ist entweder verrückt oder dazu gezwungen, weil er in der sozialen Hierarchie ganz unten steht; das bürgerliche Theater dieser Epoche gestaltete die Wahrheitsnot der armen Leute.“

Aufrichtigkeit hat also etwas mit Haltung zu tun, schreibt Engler, und diese einzunehmen sei „unmöglich ohne vorherige Auf-Richtung des Menschen durch Gottes erlösende Botschaft“. Dafür wiederum sind Disziplin, Gesetz und Pädagogik nötig. Die Analyse des Selbst wiederum – zunächst in der Beichte, später in der Psychoanalyse – „schuf eine Kultur des Authentischen, die uns Heutigen derart selbstverständlich anmutet, dass wir in rückblickender Betrachtung meinen, sie hätte das individuelle Selbst- und Weltverhältnis seit je bestimmt“. Doch ist das Authentische geschaffen, droht sogleich der Schein.

„Sobald Menschen sich vergesellschaften und ihre sozialen Beziehungen umwegig gestalten, sobald sie also Bücher schreiben, Konventionen folgen, Waren tauschen, Geld verleihen, stürzen sie in die Fänge des Betrugs.“ Authentizität, Täuschung, Lüge, Vertrauen, Natur und Kultur, Sprache und Originalität: Engler schwingt wie an Lianen durch die Geistesgeschichte und umkreist so das, was er unter Aufrichtigkeit versteht. Er widmet sich dem Phänomen lustvoll, aber wenig systematisch, eher literarisch als streng wissenschaftlich, mehr als Aufriss denn als Aufschluss, mal glänzend, mal farblos, letztlich unvollkommen und vielleicht deswegen sehr aufrichtig.

■ Wolfgang Engler: „Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus“. Aufbau Verlag 2009, 214 Seiten, 19,90 €