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Des Deutschen mächtig

REGLEMENT In der Neuköllner Kunstinitiative WerkStadt wird derzeit das Formular auf seinen Kunstgehalt überprüft

„Formulare sind eine Art von Gewaltausübung.“ Das ist mal eine steile These, mit der man bei der Ausstellung „Formulare Kunst“ in der Neuköllner Kunst­initiative WerkStadt begrüßt wird. Einen Monat lang beschäftigt sich die Künstlergruppe Ongoing Projects mit Papieren, die von der Anmeldung im Fitnessstudio oder der Teilnahme am Seifenkistenrennen bis zur Gewährung eines Kredits oder des Bleiberechts in Deutschland sowohl für Banales wie für Lebensentscheidendes ausgefüllt werden müssen.

Selbstredend steht die Gruppe der bürokratischen Reglementierung durch Schriftstücke kritisch gegenüber und beschwört die Alternative von „nicht standardisierten Begegnungen“, in der stattfindet, was nicht in die Kästchen eines Formulars passt. Wer zum Beispiel kein Deutsch versteht, der steht den Formularen des Ausländeramtes hilflos gegenüber. „Viele der Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, verstehen die Bedeutung der Formulare überhaupt nicht“, sagt eine der Beteiligten. „Denen muss man erklären, dass alles, was sie da eintragen, Auswirkungen auf ihre Existenz in Deutschland haben kann.“

Selbst wer die Sprache beherrscht, mag mit dem Amtsdeutsch, in dem die Formulare verfasst sind, seine Mühe haben. Auch Mitglieder von Ongoing Projects geben freimütig zu, dass sie bei der Anmeldung bei der Künstlersozialkasse unsicher waren, ob sie alles korrekt angekreuzt hatten: „Dabei hat man als Künstler oft das Gefühl, das man dauernd Formulare ausfüllen muss, um Förderung für Projekte zu bekommen.“

Nicht mitzumachen ist freilich keine Alternative. Wer wie Melvilles Schreiber Bartleby „Ich möchte lieber nicht“ zum Formular sagt, etwas falsch oder unvollständig ausfüllt oder es einfach in die „Ablage P“ – ein Exemplar schmückt auch den Ausstellungsraum – verfrachtet, bekommt kein Arbeitslosengeld oder keine Bahncard. Im Internet ist Surfen oft das ununterbrochene Ausfüllen von digitalen Formularen. Darum gibt es in der WerkStadt jeden Nachmittag die „Fokü“ – kurz für Formular-Küche –, wo Experten Leute aus der Nachbarschaft beim Ausfüllen des Antrags auf ALG II, Kindergeld, Wohngeld beraten, und am Abend eine Reihe von geisteswissenschaftlichen Vorträgen zum Thema.

Den Erwartungen, die man traditionellerweise an eine Kunstausstellung hat, entsprechen lediglich einige Exponate an der Wand, deren Präsentation an die härteste Doku-Kunst der 90er Jahre à la Renée Green erinnert: ein Ordner voller Beispielformulare, Bücherregale mit Literatur zum Thema, ein Kopierer zur Produktion weiterer Formulare – da wirken einige Origami-Faltarbeiten aus Formularen und ein ausgefülltes und unterschriebenes Formular, das als eine Art bürokratischer Auflagenarbeit gerahmt an der Wand hängt, schon verspielt.

Wie säuberlich die von den Künstlern gesammelten Formulare in einem grau marmorierten Aktenordner in Klarsichthüllen verpackt sind, sagt aber auch etwas darüber aus, wie in Deutschland selbst Menschen, die Formularen kritisch gegenüberstehen, in der Praxis recht gründlich verinnerlicht haben wie das Reglement funktioniert, das diese Papierstücke uns aufzwingen. Tilman Baumgärtel

„Formulare Kunst“ in der WerkStadt, Emser Straße 124, bis 31. Oktober . Heute hält der Geisteswissenschaftler Christian Drießen einen Vortrag über „Form, Ideologie, Hemmungen, Formlosigkeit”, gefolgt von einer Performance von Wahshi K. Am 16. Oktober wird in der letzten „Formular-Küche” eine gemeinsame Petition zum Gebrauch von Formularen erarbeitet

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