Humanität per Gerichtsurteil

Frankreich Ein Gericht zwingt den Staat dazu, den Menschen im „Dschungel“ von Calais wenigstens Wasserstellen und Toiletten zur Verfügung zu stellen. Das ist Europa 2015

Sudanesische Migranten bereiten sich eine Mahlzeit vor ihrem Zelt im „Dschungel“ zu Foto: Michel Spingler/ap

Aus Paris Rudolf Balmer

Ein ungewöhnliches Urteil prangert Versäumnisse der Staatsmacht ganz unmissverständlich an. Das Verwaltungsgericht von Lille hat am Montagabend angeordnet, dass die Behörden die Lebensbedingungen im Flüchtlingscamp „Dschungel“ bei Calais verbessern müssen. Dies ist ein Sieg diverser humanitärer Hilfsorganisationen, die den französischen Staat endlich zu etwas mehr Menschlichkeit im Umgang mit den in Calais gestrandeten Flüchtlingen gezwungen haben.

Die NGOs „Médecins du Monde“ und der „Secours catholique“ machten in ihrer gerichtlichen Beschwerde geltend, dass aufgrund der notorisch prekären Zustände im Lager, in dem derzeit rund 6.000 Menschen in Zelten und Hütten leben, die gesetzlich garantierten „Grundfreiheiten der Republik“ verletzt würden. Die Richter gaben dieser Analyse im Wesentlichen recht. Angesichts der allgemein bekannten und für die politischen Verantwortlichen mehr als peinlichen Verhältnisse im Camp von Calais wäre es skandalös, sollte die Präfektur als lokale Vertreterin der Pariser Zentralmacht Berufung gegen das Urteil von Lille einlegen.

„Es ist uns gelungen, den Staat zum Handeln zu zwingen, die Justiz hat dafür die Richtung vorgegeben“, meint Bernard Thibaud vom Secours catholique (Caritasverband). Noch bleibe das Hauptanliegen, denn die „Dschungelbewohner“, für die das Lager meistens nur eine Zwischenstation nach Großbritannien darstellt, müssten in menschenwürdigen Unterkünften vor den winterlichen Witterungen geschützt werden. Davon ist man in Calais weit entfernt.

Den staatlichen Behörden hat das Gericht eine Frist von acht Tagen gegeben, um vor allem die bisher katastrophalen hygienischen Bedingungen im (offiziell bloß geduldeten) Camp zu verbessern. So müssen zusätzliche Wasserstellen und mobile Toiletten eingerichtet werden, auch die Müllabfuhr soll im Camp organisiert werden. Der Forderung, leer stehende Gebäude zu requirieren und als Flüchtlingsunterkünfte einzurichten, wurde nicht stattgegeben. Es bleibt auch mit dem Urteil von Lille bei einer oberflächlichen Symptombehandlung.

„Es ist uns gelungen, den Staat zum Handeln zu zwingen“

Bernard Thibaud, Secours catholique

Parallel ist der französische Staat auf Druck von London weiterhin bestrebt, mit immer schärferen Schutzmaßnahmen und Kontrollen die Migranten von Calais daran zu hindern, den Ärmelkanal zu überqueren. Mindestens 18 von ihnen sind in diesem Jahr bei ihren riskanten Versuchen ums Leben gekommen.

Regelmäßig werden deshalb ganze Gruppen unter Polizei­eskorte mit Charterflügen in andere Landesteile verfrachtet, um den Druck auf Calais zu vermindern. Dass das Innenmi­nisterium dafür 1,5 Millionen Euro jährlich für solche Flüge ausgibt, hat einen Skandal ausgelöst.

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