Rugby Im Halbfinale der Weltmeisterschaften in England müssen die europäischen Nationalteams zusehen. Dass Europa ins Hintertreffen geraten ist, liegt nicht nur am Wetter
: Das neue Süd-Nord-Gefälle

Sich im Gesicht begrabbeln als Sport Foto: Tim Ireland/ap

von Christian Henkel

Wenn am kom­menden Wochenende die Halb­finals der Rugby­weltmeisterschaft ausgespielt werden, sind die Europäer nur Zuschauer. Zum ersten Mal in der Geschichte duellieren sich ausschließlich Mannschaften der Südhalbkugel in der Runde der letzten vier. Das heizt eine alte Grundsatzdebatte zwischen zwei völlig unterschiedlichen Rugbyphilosophien aufs Neue an.

Vor genau 110 Jahren reiste zum ersten Mal eine neuseeländische Rugbynationalmannschaft durch Großbritannien und begründete einen Mythos. In ihren legendären schwarzen Trikots gewannen die Original All Blacks 34 von 35 Partien und hinterließen eine gedemütigte Mutternation.

Seitdem werden die Unterschiede zwischen europäischen Teams und ihren Counterparts in Übersee wohl in keinem anderen Mannschaftssport mit so viel Leidenschaft herausgestellt. Schon 2007 zur WM in Frankreich galt unter den englischen Buchmachern als ausgemacht, was 2015 tatsächlich zum ersten Mal eingetreten ist: ein Halbfinale ohne Europa. Gastgeber Frankreich hatte sein Auftaktmatch gegen Argentinien sensationell verloren, der damalige Titelverteidiger England war mit 36:0 von den Springboks aus Südafrika zerlegt worden, und die All Blacks hatten ihre Gegner wie Schülermannschaften demontiert. „Irgendeiner muss den Arzt rufen“, spottete der New Zealand Herald. „Das Rugby der nördlichen Hemisphäre ist furchtbar krank.“

Auch der englische Guardian sprach von einer katastrophalen Fehlentwicklung des europäischen Spiels. Zu viel Wert sei auf die Athletik gelegt worden. Aber mit muskulösen Schränken allein gewinne man kein Spiel. So stolpere man den dynamischen Spielzügen der anderen nur schwerfällig hinterher.

Im Duell Nord gegen Süd musste sich die alte Grundsatzfrage entscheiden: Wird das im Süden weiterentwickelte Rugby mit seinem flüssigen Passspiel dominieren, oder kehrt der Sport, wie es die Herald Tribune ausdrückte, „in seine Urhöhle zurück, wo Kolosse in Defensivschlachten ohne Unterlass aufeinanderprallen“?

2007 triumphierte am Ende Südafrika. Acht Jahre später ist die Dominanz der Teams von der Südhalbkugel größer denn je. In den vergangenen zehn Jahren konnten die besten sechs Mannschaften Europas (die „Six Nations“: England, Wales, Schottland, Irland, Frankreich und Italien) nur jedes fünfte Länderspiel gegen Gegner der Rugby Championship (Neuseeland, Argentinien, Australien und Südafrika) gewinnen. Seit England 2003 Weltmeister wurde, hat es in 15 Länderspielen gegen die All Blacks nur ein einziges Mal gewonnen.

1. Halbfinale:

Südafrika – Neuseeland

Samstag, 24. 10., 14 Uhr

2. Halbfinale:

Argentinien – Australien

Sonntag, 25.10., 17 Uhr

Das Spiel um Platz 3 findet am Freitag, 30. 10., 21 Uhr statt.

Das Finale steigt am Samstag, 31. 10., 17 Uhr.

Als Favorit auf den Titel gilt der Titelverteidiger aus Neuseeland.Alle Spiele werden live auf Eurosport übertragen.

Die aktuelle Weltmeisterschaft wird von Experten, Journalisten und Zuschauern unisono als beste Werbung für das Rugby gesehen: Das Spiel ist intensiv, schnell und mitreißend. Aber das sind vor allem die Attribute des Südens.

Was ist geschehen, seitdem das Spiel von England aus in die Welt gezogen ist? Warum hat es sich so unterschiedlich entwickelt? Eine der schlüssigsten Erklärungen liefert das Wetter. Der Südafrikaner Bakkies Botha, einer der meistdekorierten Rugbyspieler weltweit, fasste diese Theorie in einem Interview mal so zusammen: „Wenn du das Spiel auf matschigen Böden mit einem nassen Ball, bei Regen und Wind erlernst, wirst du die Kontrolle in den Gedrängen [Scrums] und in den Standardsituationen suchen. Bei uns aber im Süden ist es sonnig, sind die Böden hart und der Ball trocken. Bei uns hat man einfach mehr Spaß am Laufen und Passen. Wer will sich schon immer die Knie im Dreck aufschlagen?“

Das flüssige Lauf- und Passspiel haben nun selbst die Pumas aus Argentinien übernommen. Lange Zeit hatten die Südamerikaner um die Aufnahme in einen der beiden Ex­klu­siv­klubs – Six Nations oder Tri Nations – gebuhlt. Seit 2012 spielen sie mit den All Blacks, Wallabies und Springboks in der neu gegründeten Rugby Cham­pion­ship. Mit durchschlagendem Erfolg. Noch vor ein paar Jahren wählten auch sie lieber die Materialschlachten im Zentrum des Spielfeldes. Doch mittlerweile gewinnen die Pumas ihre Spiele mit Attacking Rugby, mit Laufen und Passen. Und mit Trys statt mit Penaltys und Dropgoals – wie es die Iren im Viertelfinale schmerzhaft erfahren mussten. „Wir hätten uns nie so schnell entwickelt, wenn wir Teil der Six Nations geworden wären“, analysierte der Defensivcoach der Argentinier, Pablo Bouza, nach dem Einzug ins Halbfinale gegen Australien. „Das schnelle Spiel der Südhalbkugel liegt uns mehr, es ist erfolgreicher, und es ist auch genau die Action, die unsere Leute zu Hause von uns erwarten.“ In Großbritannien und Irland hingegen ist man nach dem Katzenjammer mal wieder auf Fehlersuche. Vor allem in England und Wales scheint es nach wie vor eine Art Alphatiermentalität zu geben: „Wir haben den besseren Scrum“, „wir drücken euch zurück im Gedränge“ und „wir reißen euch nieder beim Tackling“ – das scheint alles wichtiger zu sein als der schnöde Spielgewinn. In den Gedrängen brachten britische Teams oftmals deutlich mehr Gewicht ins Spiel als ihre südlichen Kontrahenten.

England stand bei den Weltmeisterschaften 2003 und 2007 auch nur deswegen im Finale, weil es „point machine“ Jonny Wilkinson so gut verstand, Pe­nal­tys und Dropgoals mit einzigartiger Sicherheit zwischen die Mahlstangen der Gegner zu befördern. Seine schwergewichtigen Kollegen konnten sich so auf das konzentrieren, wofür sie außerhalb Englands seit jeher gehasst werden: zerstören.

Doch einen Johnny Wilkinson gibt es nicht mehr. Und so wird es wohl vor allem für die Engländer Zeit, in die Rugbymoderne zu treten. „Das Ganze geht in den Akademien los, wo man sich mit Vorliebe für die starken und früh gereiften Kolosse entscheidet“, so Rugbyanalytiker Robert Kitson im Guardian. „Die zerstören das Selbstbewusstsein der kleineren, schnelleren und kreativeren Spieler.“ Dabei sind vor allem zunehmend die Allrounder gefragt. Überhaupt scheint im Akademiesystem, praktiziert vor allem in Wales und England, ein Grund für das Schwächeln der Europäer zu liegen. Hier würden die Nachwuchsspieler zu lange vom Spielbetrieb ferngehalten. „Ihre gleichaltrigen Gegner aus Australien, Neuseeland und Südafrika müssen sich im selben Alter schon in den na­tio­na­len Ligen behaupten“, so Kitson. „Die werden am Ende viel schneller erwachsen.“

„Das Rugby der nördlichen Hemisphäre ist furchtbar krank“

„New Zealand Herald“

Einen anderen Grund, warum die Südhalbkugel das Rugby Union regiert, liefert Frankreich. Hier war man lange Jahre stolz auf das French flair, jenen für die nördliche Hemisphäre so einzigartigen Stil aus flüssigem Pass- und Laufspiel sowie grenzwertig rustikalem Körpereinsatz. Frankreich schaffte es damit in drei WM-Finals. Doch Rugby ist in Frankreich nicht nur Tradition, sondern längst auch Big Business. Über 100.000 Zuschauer kommen zu den Halbfinals der nationalen Liga. Die ist die reichste der Welt und generiert Einschaltquoten, die selbst im rugbyverrückten Neuseeland mit Staunen betrachtet werden. Auch Frankreichs Sportzeitung L’Équipe verkauft deutlich mehr Zeitungen, wenn die Liga auf ihren Höhepunkt zusteuert.

Ähnlich wie beim Fußball in England sind die französischen Klubs mittlerweile wichtiger als die Nationalmannschaft. Ein Phänomen, das für den Süden undenkbar wäre. Hier sind die Nationalmannschaften Teil der nationalen Identität. Ein All Black darf nur der sein, der auch in der heimischen Rugbyliga aktiv ist.

Auch das ein Grund, warum Südafrika-Coach Heineke Meyer seinen Halbfinalgegner als „die beste Mannschaft, die jemals Rugby gespielt hat“, bezeichnete. Normalerweise erlebe ein Team nach dem Titelgewinn einen Niedergang. Nicht so die All Blacks.