Flüchtlinge in Berliner WGs: Der stinknormale Mitbewohner
Hussein Ali Ehsanis lebt in einem Lichtenberger Altbau mit fünf Menschen. Als Flüchtlings-WG möchten sich die Bewohner trotzdem nicht begreifen.
„Fuck Frontex“ – die hellblauen Buchstaben prangen an Hussein Ali Ehsanis weißer Zimmertür. Gemeint sind die Grenzschützer der Europäischen Union. Eine klare Botschaft. Ansonsten deutet in der WG in Lichtenberg wenig darauf hin, dass Hussein als Flüchtling nach Deutschland kam. Wer die Wohnung betritt, sieht einen weißen Zettel. Er hängt in Kopfhöhe an der Eingangstür. „Blumen gießen“, hat jemand mit Bleistift darauf geschrieben. Neben der Tür, auf dem Holzparkett, steht ein kleines Schuhregal mit vielen unterschiedlichen Paar Schuhen. Daneben ein graues Sofa. Alles stinknormal. Eine WG eben.
Als „Flüchtlingswohngemeinschaft“ verstehen sich Hussein und seine Mitbewohner nicht. „Hussein wohnt bei uns nicht als Flüchtling, er wohnt bei uns als Mensch“, sagt Agnes Kähler, seine Mitbewohnerin. Seit April lebt Hussein jetzt hier in Lichtenberg. Der 22-Jährige teilt sich die Wohnung mit fünf Menschen im Alter von eineinhalb bis 33 Jahren.
An diesem Samstagmorgen sind drei von ihnen da: Agnes, Frieda Grabner und ihr Sohn Mika, der mit Klötzen hantiert. Die Herbstsonne scheint grell durch das Küchenfenster; Agnes kocht Kaffee. Während sie eine Tasse Milchschaum auf den Holztisch stellt, beginnt sie zu erzählen. „Als im Frühjahr dieses Jahres ein Mitbewohner auszog, haben wir uns im Freundeskreis umgehört, ob jemand ein Zimmer sucht.“ Einige Interessenten hätten sich gemeldet. Acht davon habe die WG im April eingeladen, um sie kennenzulernen.
Einer der Bewerber war Hussein. Er sei sehr zurückhaltend aufgetreten, erinnert sich Agnes. „Hussein hat keine Entertainmentshow abgezogen.“ Das gefiel den WG-Bewohnern. „Wir haben gemerkt: Der passt zu uns“, erzählt Agnes. Sie und Frieda spielen Fußball, genau wie Hussein. „Das war so etwas wie ein Anknüpfungspunkt“, sagt Frieda. Hussein spricht gutes Deutsch. Sie hätten sich nett unterhalten, die Chemie habe gestimmt. Seine Aufenthaltserlaubnis spielte keine Rolle. „Dass er aus seiner Heimat geflohen war, wusste ich überhaupt nicht“, sagt Frieda.
Hussein lebt seit August 2011 in Deutschland. Seit 2014 hat er eine Aufenthaltsgenehmigung, bis 2017 darf er auf jeden Fall bleiben. Der Afghane besucht die Volkshochschule Tempelhof-Schöneberg, will nächstes Jahr den Mittleren Schulabschluss machen. Den Hauptschulabschluss hat er schon. Husseins Lieblingsfächer sind Englisch und der Computerunterricht. „Seine Noten waren zuletzt echt gut, besonders die mündlichen Prüfungen“, sagt Agnes. Hussein schaut auf den Boden.
Er habe in seiner Heimat nie lesen und schreiben gelernt, geschweige denn eine Schule besucht, erzählt Hussein. Über seine Familie mag er nicht sprechen. 2005 floh er als Zwölfjähriger aus dem Krieg in Afghanistan. „Wohin, war mir egal, ich wollte einfach ein normales Leben führen“, sagt er heute. Entfernte Verwandte nahmen ihn mit nach Teheran, in den Iran. Dort arbeitete er zweieinhalb Jahre als Wachmann in einer Eisenfabrik. Eine Schule konnte er nicht besuchen, Hussein war illegal im Land.
Asylantrag nicht bearbeitet
Er reiste weiter über die Türkei nach Griechenland. Dort blieb er fast drei Jahre und stellte einen Asylantrag. Doch die Behörden hätten seinen Antrag nicht bearbeitet, sagt er. „Schließlich schmissen sie mich aus dem Wohnheim, weil ich unter 18 und ohne Begleitung war.“ Über Paris und Brüssel zog er weiter nach Deutschland. Im August 2011 kam er schließlich in Kreuzberg an.
„Ich dachte damals, dass die Probleme in Europa aufhören“, sagt Hussein, „doch das stimmt nicht.“ Sich hier zurechtzufinden sei ihm nicht leichtgefallen. Mehr als 20 Briefe habe er von den deutschen Behörden bekommen. Auch wenn er sich auf seiner Flucht mit Zeitungen und Zeitschriften ein bisschen lesen und schreiben beigebracht habe: Deutsch sprach er nicht. In dieser Zeit wohnte Hussein in einem Wohnheim in Kreuzberg. Mit vier anderen Flüchtlingen teilte er sich ein Zimmer – das sei schwer gewesen. „Der eine wollte essen, der andere Musik hören.“ Gut schlafen konnten Hussein und seine Mitbewohner nur selten. Auch war da die Angst, abgeschoben zu werden. Zu diesem Zeitpunkt ist noch unklar, ob er bleiben darf.
Während Hussein erzählt, sitzen Agnes und Frieda vorgebeugt auf ihren Stühlen. Ab und zu fragen sie nach. Manches von dem, was Hussein erzählt, ist auch für sie neu. Der einjährige Mika unterbricht Hussein immer wieder, wirft zweimal ein Spielzeugauto auf den Tisch. Beinahe trifft er eine Kaffeetasse. Hussein erzählt weiter.
Damals, im Kreuzberger Wohnheim, stieß er zufällig auf einen Flyer von Champions ohne Grenzen e. V., einem Fußballteam aus Flüchtlingen. Aus Neugier ging er zum Training und blieb, trainierte bald regelmäßig. Mit seinen Mitspielern und Trainern sprach er Deutsch. Der Verein half ihm, Freunde zu finden und die fremde Sprache zu lernen. Inzwischen sitzt Hussein im Vorstand des Vereins, kümmert sich um Turniere und Freundschaftsspiele.
Über einen Freund von Champions ohne Grenzen fand Hussein 2012 seine erste richtige Wohngemeinschaft in Neukölln. „Ich wusste erst gar nicht, was eine WG ist“, erzählt Hussein. Damals war sein Deutsch noch schlecht; mit seinen vier Mitbewohnern – darunter zwei Studenten – habe er sich mit Händen und Füßen verständigt. „Am Anfang war es schwierig“, sagt Hussein. Aber mit der Zeit habe er sich eingelebt. Das Zimmer bezahlte das Arbeitsamt. Hussein bekommt Arbeitslosengeld – damals wie heute. Nach zwei Jahren in der Neuköllner WG wollte er ausziehen. „Der Raum war sehr kalt, lag an der Nordseite und hatte wenig Fenster.“
Also gab Hussein im Internet ein Gesuch auf. Zu fünf Vorstellungsgesprächen wurde er eingeladen – und bekam fünfmal eine Absage. Es sei schwer gewesen, ein WG-Zimmer zu finden. „Ich glaube, dass manche ein schlechtes Bild von Afghanistan haben“, mutmaßt Hussein. Wenn er nicht danach gefragt wurde, verschwieg er seine Herkunft. Über einen Bekannten kam Hussein dann nach Lichtenberg.
Rasch habe er gemerkt, dass Lichtenberg einen anderen Charakter als Neukölln hat – weniger multikulturell sei es hier. Manche Menschen auf der Straße beäugten ihn kritisch. „Manchmal weiß ich nicht, ob ich hier in ein Café gehen möchte“, sagt Hussein. In der Wohngemeinschaft mit Agnes und Frieda aber sei alles super. „Wir sind wie eine Familie“ – ein Satz, der am Küchentisch der WG immer wieder gesagt wird.
Konflikte? „Gibt es keine“, sagt Hussein. Natürlich: Es gibt kulturelle Unterschiede. „Aber weil wir aufeinander Rücksicht nehmen, geht das gut.“ Alle am Tisch nicken. Probleme im Alltag habe Hussein keine, versichert Agnes. Sie hilft ihm manchmal bei den Deutsch-Hausaufgaben. „Aber genauso hilft mir Hussein auch, wenn ich ein Regal aufbauen muss“, sagt sie. Alles normal also, alles harmonisch.
Gemeinsam am Esstisch
Gemeinsam unternehmen sie selten etwas. „Aber am Esstisch sitzen wir oft zusammen, reden, lachen und kochen“, erzählt Agnes. Die Flüchtlingsströme nach Deutschland in den letzten Monaten sind dann auch ein Thema. „Die Geflüchteten beschäftigen mich schon länger“, sagt die 33-Jährige. Sie hat auf dem Oranienplatz mehrere Monate im Flüchtlingscamp mitgeholfen. Agnes kennt Freunde, die obdachlose Geflüchtete in ihre Wohnung aufgenommen haben. „Das finde ich toll“, sagt sie. Und doch sei das mit Hussein etwas anderes. „Wir begegnen uns auf Augenhöhe, ich habe Hussein als gut vernetzt und in Berlin angekommen kennengelernt.“
Später, wenn er mit der Schule fertig ist, möchte Hussein Erzieher werden. „Als Fußballtrainer habe ich gelernt, wie man Kindern etwas beibringt“, sagt er. Gelegentlich geht der Afghane auch mit seinen Freunden aus der Fußballmannschaft demonstrieren – für eine Willkommenskultur und gegen die Abschottungspolitik der EU. So kam auch das „Fuck Frontex“-Schild an seine Tür.
Dieser Text ist Teil des aktuellen Schwerpunkts in der taz.berlin. Darin außerdem: Eine weitere Reportage und ein Essay. In Ihrem Briefkasten und am Kiosk.
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