Die Lüge von der Alternativlosigkeit

LIBERALISMUS-SKEPTIKER Der Gesellschaftstheoretiker Colin Crouch liest beim Göttinger Literaturherbst

Wenn sonst nichts von ihm bliebe, bliebe zumindest dieses eine Wort: „Postdemokratie“. So betitelte Colin Crouch 2004 einen durchaus polemisch zu verstehenden Essay, der 2008 auch ins Deutsche übersetzt wurde. Der britische Sozialwissenschaftler diagnostizierte, dass sich die zeitgenössische Demokratie in einer paradoxen Lage wiederfinde: Einerseits expandiere sie über den Globus, andererseits sei eine Art innerer Aushöhlung zu beklagen.

„Die Demokratie kann nur dann gedeihen“, schrieb Crouch, „wenn die Masse der normalen Bürger wirklich die Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen – und wenn sie diese Gelegenheit auch aktiv nutzt.“

Dass da etwas im Argen liegt, mag schon der Blick auf die vielerorts sinkende Wahlbeteiligung nahelegen. Crouch geht aber noch weiter: Postdemokratie bezeichne „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden“, aber „die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe zu einem reinen Spektakel verkommt“. Im Schatten der Inszenierung werde „die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht“, und das nur unter anderem von den zuvor Gewählten.

Crouchs streitbare Befunde haben, klar, auch Widerrede zur Folge gehabt, die aber allzu oft nur seine Interpretation angreifen kann, nicht das, worauf er sie fußen lässt. Dass der Lobbyist im Fachministerium einen Schreibtisch hat, ist ja kein bloßes Gespinst; so wenig wie die gerne als alternativlos in Szene gesetzte Privatisierung möglichst noch der elementarsten staatlichen Aufgaben nicht immer Paradiesisches hervorbringt.

Wunderte er sich 2011 dann über „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, hat der inzwischen emeriterte Crouch zuletzt „Die bezifferte Welt“ vorgelegt, Untertitel: „Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht“ –und: „Postdemokratie III“. Darin geht er der Frage nach, welche Folgen die Ökonomisierung im Feld des Wissens hat –auch, aber längst nicht nur im Sinne von Wissenschaft und Bildung: Dass es zum aktiven Teilnehmen an der Demokratie eben auch eines Wissens braucht, das nicht von PR-geformt ist –selbst wenn das im Auftrag der gewählten Repräsentanten passiert: Das war ja schon seine Ausgangsthese. ALDI

Freitag, 16.10., 19 Uhr, Paulinerkirche, Göttingen