Kanada

Die Liberalen haben die Wahlen gewonnen. Sie wollen die Zeit der Polarisierung beenden und die Bürger wieder zusammenführen

Zurück zur offenen Gesellschaft

Neuanfang Liberalenchef Trudeau steht nicht nur für einen Machtwechsel. Nach der Ära Harper soll sich Kanada auch wieder stärker auf seine liberalen Wurzeln besinnen

Xavier Trudeau (8, rechts im Bild), Premier im Jahr 2062, scheint bisher keine Lust auf Teil 2 von „Zurück in die Zukunft“ zu haben Foto: Paul Chiasson/dpa

Aus Ottawa Jörg Michel

Justin Trudeau kennt die steinerne Villa am Sussex Drive Nummer 24 in Ottawa nur zu genau. Als Kind lernte er in einem blauen Zimmer im ersten Stock das Laufen. Später spielte er in dem Gebäude Verstecken und raufte mit seinen Brüdern.

Vier Jahrzehnte ist es her, dass der Parteichef der kanadischen Liberalen im Haus des Regierungschefs – seines berühmten Vaters Pierre Elliott Trudeau – aufwuchs. Am Montag besiegte der Sohn bei der Parlamentswahl den konservativen Amtsinhaber Stephen Harper. Und steht damit vor einem triumphalen Wiedereinzug in den Ort seiner Kindheit.

Laut letzten Hochrechnungen konnte Trudeau 184 der 338 Mandate gewinnen – und damit eine absolute Mehrheit der Sitze. Die Konservativen erhielten laut dagegen nur noch 99 Sitze, die Sozialdemokraten 44, der separatistische Bloc Québecois 10 und die Grünen 1.

„Kanada hat sich heute für einen Neuanfang entschieden“, rief Trudeau am Montag in Montréal seinen jubelnden Anhängern zu. Er versprach, die polarisierende Politik Harpers zu beenden und das Land wieder stärker zusammenzuführen. Dabei will Trudeau Kanada zu seinen liberalen Wurzeln zurückbringen und das Image des Landes im Ausland verbessern. Auch bei der anstehenden Weltklimakonferenz in Paris will der Neue eine konstruktivere Rolle übernehmen, wenngleich er sich im Wahlkampf auf keine konkrete Reduktion von Treibhausgasen festgelegt hatte.

Innenpolitisch steht das Land vor einem Linksruck. Trudeau will Besserverdienende höher besteuern, die Sparpolitik lockern und die staatlichen Investitionen erhöhen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Zudem hat er versprochen mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen und die Militärinterventionspolitik der Vorgängerregierung zu be­enden. Die von Harper mehrmals verschärften Antiterrorgesetze will Trudeau nicht komplett aufheben, aber immerhin verschlanken. Umstrittene Pipelineprojekte an die Pazifikküste sollen auf den Prüfstand.

Der Sieg Trudeaus kommt in seinem Ausmaß überraschend. Noch zu Beginn des Wahlkampfes hatte der 43-Jährige gelernte Erzieher und Snowboard-Lehrer weit abgeschlagen auf dem dritten Platz gelegen. Monatelang hatten ihn seine Gegner mit diffamierenden Wahlkampfspots überzogen und ihm die Eignung zum Premier abgesprochen.

Doch mit einem perfekt inszenierten Wahlkampf in Stile Barack Obamas vermochte es der liberale Kandidat, sich als Erneuerer und Hoffnungsträger der jüngeren Generationen zu präsentieren. Dabei profitierte Trudeau von einer weit verbreiteten Wechselstimmung: Nach drei konservativen Amtsperioden wollten Umfragen zufolge über 70 Prozent der Kanadier einen Neuanfang.

Für den bisherigen konservativen Amtsinhaber Harper dagegen ist der Aufstieg Trudeaus nicht nur eine politische Niederlage, sondern auch eine persönliche. Seine Mission war es stets gewesen, das politische Erbe von Trudeaus Vater, der Kanada mit Unterbrechungen von 1968 bis 1984 regiert hatte, zu tilgen.

Der mittlerweile verstorbene Trudeau senior wurde international als so exzentrischer wie brillanter Intellektueller geachtet. Unter seiner Regie schrieb Kanada den Mulitkulturalismus als Staatsziel in die Verfassung, führte erstmals einen Grundrechtekatalog ein, liberalisierte seine Einwanderungspolitik.

Dass Harper nun ausgerechnet von Trudeau junior vom Sockel gestoßen wurde, dürfte den bisherigen Premier schwer getroffen haben. Noch in der Nacht kündigte der gelernte Volkswirt aus Calgary den Rücktritt von allen Parteiämtern an und versprach einen reibungslosen Machtwechsel: „Die Verantwortung für diese Niederlage liegt bei mir. Bei mir alleine.“

„Wir werden niemandem vorschreiben, was er anziehen darf und was nicht“

Wahlsieger Justin Trudeau über den Gesichtsschleier

Harper hatte im Wahlkampf auf die falschen Themen gesetzt. Statt auf seine vermeintlichen Stärken – Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie internationale Erfahrung – zu bauen, hatte er mit Blick auf die überwiegend französischsprachige Provinz Québec eine Kontroverse über „kanadische Werte“ angezettelt und mit der Ankündigung, den muslimischen Gesichtsschleier Niqab als „Ausdruck einer frauenfeindlichen und unkanadischen Kultur“ zu verbieten, eine Mehrheit der Bürger gegen sich aufgebracht.

Zudem wollte Harper verurteilten Terroristen die Staatsbürgerschaft entziehen und im Falle seiner Wiederwahl eine Polizeihotline einrichten, bei der Bürger so genannte barbarische kulturelle Praktiken anzeigen sollen.

Für die Gegner des Konservativen war das besonders in den bevölkerungsreichen Einwanderungsvierteln rund um Millionenmetropolen wie Toronto oder Montréal ein Weckruf. Sie vermochten mit dem Slogan „Anyone but Harper“ viele Wähler zu mobilisieren und auch junge Menschen zur Wahlurne zu bringen. Selbst in der erzkonservativen Erdölstadt Calgary gewann Trudeau bei dieser Wahl Sitze hinzu. Das hatte sein Vater zuletzt 1968 erreicht.

In seiner Dankesrede am Wahlabend verteidigte Trudeau junior erneut explizit das Recht muslimischer Frauen, ihr Gesicht zu verschleiern: „Wir werden niemandem vorschreiben, was er anziehen darf und was nicht.“ Kanada sei ein multikulturelles Land, er werde Minderheitenrechte auch dann verteidigen, wenn das unpopulär sei.

Trudeau junior ist mit dem Machtwechsel gelungen, was der ehemalige US-Präsident Richard Nixon ihm schon früh prophezeit hatte. Bei einem Empfang in Kanada 1972 hatte Nixon den jungen Trudeau scherzhaft eine große Zukunft als Premier vorausgesagt. Jetzt ist es tatsächlich so genommen. Die Villa am Sussex Drive Nummer 24 steht schon bereit.