piwik no script img

Zeitgeschichte Nicholas Stargardt überzeugt mit seiner These, dass die Deutschen den Nazis die Treue hielten, weil sie als Mitwisser eine Niederlage fürchten musstenDie Komplizen

Viele wussten um die Verbrechen: Babi Jar, 1941 Foto: Ullstein Bild

von Klaus Hillenbrand

Da ist August Töpperwien, geboren 1892. Der verheiratete Studienrat aus Solingen zieht als Offizier in den Krieg. Wilm Hosenfeld, ein Volksschullehrer aus Hessen, dient in der deutschen Garnison in Warschau, Fritz Probst kommt in ein ­Bau-Bataillon und Hans Albring aus Gelsenkirchen dient bei der Infanterie.

Nicholas Stargardt stellt zu Beginn seines Buchs 14 Protagonisten vor, einige davon mit ihren Ehepartnern, die in seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs pars pro toto für diejenigen stehen, mit deren Unterstützung Krieg, Verbrechen und Völkermord möglich wurden. „Das Erleben einzelner Menschen liefert einen Maßstab für die Gefühlslage und den moralischen Zustand einer Gesellschaft auf dem Weg zur Selbstzerstörung“, postuliert Stargardt.

Seine Studie über den „deutschen Krieg“ stellt die Geschichte vom Kopf auf die Füße. Es geht hier nur am Rande um Kesselschlachten oder Rückzugsgefechte. Stargardt will erklären, warum die Deutschen diesen Krieg bis zum bitteren Ende unterstützten. Seine Erkenntnisse beruhen selbstverständlich nicht allein auf der Auswertung von Tagebüchern und Briefwechseln seiner Protagonisten. Aber es sind diese Einzelmenschen, die seine Thesen untermauern.

Der Zweite Weltkrieg war zu Beginn keineswegs populär. Viele Deutsche erinnerten sich der Gemetzel des Ersten Weltkriegs mit 1,8 Millionen Gefallenen. Sie kannten aus eigener Erfahrung den Steckrübenwinter von 1917. Doch es gelang dem NS-Regime, breite Kreise zu der Überzeugung zu bringen, Deutschland werden von außen angegriffen, befinde sich also in einem Verteidigungskrieg – auch wenn tatsächlich das Gegenteil der Fall war.

Da sind die Analogien zum Ersten Weltkrieg, der den Maßstab derjenigen vorgab, die nun einen Zweiten erlebten, augenfällig. Schon damals, erinnert Stargardt, hatte die Arbeiterbewegung dem Ruf zu den Waffen zugestimmt, als der Eindruck entstanden war, das Reich würde von den Barbaren aus dem Osten angegriffen.

Stargardts Buch stellt die Geschichte vom Kopf auf die Füße

Die Verbrechen gegen die polnische Zivilbevölkerung, die 1939 einsetzten, fanden nicht nur Beifall unter den deutschen Soldaten: „Wie gern bin ich Soldat gewesen, aber heute möchte ich den grauen Rock in Fetzen reißen“, schrieb der gläubige Katholik Wilm Hosenfeld, der später in Warschau Juden half. Der Soldat Heinrich Böll dagegen meinte, wohl typischer, über die Polen: „Hinter der Schwermut ihrer Augen lauert der Hass und ein toller Fanatismus, der zweifellos wilder als je wieder aufflackern würde, sobald einmal etwa drei Wochen kein Militär mehr hier wäre; dann würde aber keiner von den Volksdeutschen mehr übrigbleiben.“

Die Siege Hitlers im Westen führten dazu, dass Millionen Deutsche sich sehr konkret als Kriegsgewinner fühlen konnten. In Frankreich eingesetzten Soldaten war es möglich, nicht nur Cognac und Leberpastete, sondern Seidenkleider und Teppiche zu Spottpreisen an die ­Lieben in die Heimat zu senden – so wie der Soldat Ernst Guicking, der Mitbringsel für die gesamte Verwandtschaft erstand. Das war der Beginn der Partizipation der Deutschen an den Früchten des Angriffskriegs. Zudem konnten die jungen Soldaten im Westen häufig sexuelle Freiheiten ausleben, während die Frauen daheim dazu angehalten waren, keinesfalls in sexuellen Kontakt mit Arbeitern aus Polen zu treten. Letzteren drohte für diesen Fall der Tod durch den Strang – ein Verständnis von Sexualität, das den weiblichen Körper zum Träger der Ehre des Volkes definierte.

Stargardt vergisst nicht, die Bedeutung des Terrors gegen die eigene Bevölkerung zu erwähnen, wenn es darum geht, weshalb die Deutschen dem NS-Regime die Treue hielten, auch als der Krieg ihre eigenen Häuser zerstörte.

Als wichtiger erkennt Stargardt die Komplizenschaft der Bevölkerung mit den Verbrechern. „Die Deutschen konnten weder den Nationalsozialismus noch den Krieg ablehnen, weil sie eine mögliche Niederlage für existenzbedrohend hielten“, so der Autor. Tatsächlich, das belegen etwa die Studien von Peter Longerich und Bernward Dörner, waren Informationen über den Holocaust weit verbreitet. „Die Leichen, die man früher regellos auf einen Haufen warf, werden bereits, so gut es geht, aussortiert und über das halbe Tausend erschossener Juden hat man schon Kalk gefahren“, so lobt Hans Albring 1942 an der Ostfront deutsches Organisationstalent.

Selbst Kinder erfuhren von den Verbrechen: „Mutti erzählte neulich, die Juden seien in den Lagern zum größten Teil umgebracht worden, aber ich kann es nicht glauben“, notierte 1943 eine 15-Jährige.

So unpopulär der Krieg also weiterhin war, schreibt Stargardt, so wenig konnten sich die Deutschen gegen diesen erheben, weil in ihren Augen eine Niederlage die Gefahr in sich barg, dass sie alle für dieses Wissen teuer bezahlen müssten. Die Bombenteppiche der Alliierten auf deutsche Städte wurden im Wissen der Verbrechen an Juden als deren Rache interpretiert, verbunden mit der bangen Frage, ob man bei den antisemitischen Exzessen nicht zu weit gegangen sei. Entsprechend blieben die Deutschen überzeugte Patrioten, die einen Sieg erhofften. „Gott sei Dank ist der Geist der Revolte weiter fern“, schrieb August Töpperwien im Oktober 1944.

„Ein herausragendes Buch“, schreibt der britische Historiker Ian Kershaw über Stargardts Buch. Dem ist nichts hinzuzu­fügen.

Nicholas Star­gardt: „Der deutsche Krieg 1939–1945“. Aus d. Engl. v. U. Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2015, 848 S., 26,99 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen