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Kommentar von Mathias Greffrath

Von Winston Churchill lernen, heißt siegen lernen. Vor allem heißt es, Krisen als Chancen zu erkennen, um Gesellschaft neu zu verhandeln.

Und jetzt alle zusammen... Foto: ap

Never let a good crisis go waste.“ Der lakonische Ratschlag von Winston Churchill verweist darauf, dass es der Politik nur in Ausnahmezuständen gelingt, die Gewohnheiten und Erwartungen einer ganzen Gesellschaft tiefgreifend zu verändern, zum Notwendigen oder zum Schlimmeren.

Die Geschichte ist voll von ungenutzten Krisen. Vor allem von links gesehen. Der Fall der Mauer: verpasst die Chance, die Demokratie zu vitalisieren, Steuersystem, Arbeitsverfassung und Eigentumsordnung zu modernisieren. Klimaschock und Fukushima: nicht genutzt für wirklich große Schritte in die postfossile Gesellschaft. Die Bankenkrise, ihr folgend das Schulden- und Eurodesaster: Nichts bleibt, wie es vorher war, tönte es von rechts bis links – und am Ende nicht einmal eine Finanztransaktionsteuer. Stattdessen eine unlegitimierte Nebenregierung, Eurogruppe genannt, eine „Rettungspolitik“, die mit 1.800 Milliarden Euro den Riss durch Europa zementiert, die Finanzmächte stabilisiert und eine Generation europäischer Jugendlicher geopfert hat.

Und nun die sogenannte Flüchtlingskrise. Die Kanzlerin hat mit ihrem Bekenntnis zu (kontrolliertem) Asylrecht und (temporärer) Grenzöffnung, vor allem aber mit ihrem nüchtern eingedeutschten „Yes we can“ die Stimmung des linksliberalen Deutschland ausgedrückt. Das hat sie neun Beliebtheitspunkte gekostet, dafür Liebeserklärungen linker Kommentatoren eingebracht. Ihr „Plan“ zielt zunächst auf eine ordentliche Unterbringung frierender Migranten, beschleunigte Verwaltungsverfahren, Sprachkurse, Wohnungsbau – und geldbestückte Gespräche mit der Türkei, um Notleidende vom Weiterreisen abzuhalten. Das ist nicht wenig.

Aber selbst wenn all das und dazu eine europakompatible Verteilung der Flüchtlinge gelänge: Die Völkerwanderung wird es nicht aufhalten. Weder die aus den durch Imperialismus, Kalten Krieg und Ölhunger zerbröselnden failed states noch die aus den durch Gewalt und Dürre verwüsteten Hungerregionen Afrikas. Einen „Plan B“, der die Herausforderungen formuliert, die in den kommenden Jahrzehnten auf ein demokratisches Westeuropa zukommen, das seine Sozialstaatlichkeit schon jetzt nicht mehr durch garantiertes Wachstum sichern kann – einen solchen Plan hat zur Zeit niemand, der nicht nur mit Gedanken, sondern mit Macht hantiert.

Begeisterung für Fernziele nähren

„Die europäischen Völker haben ihren hohen Lebensstandard der direkten oder indirekten Ausbeutung der farbigen Völker zu verdanken“, so schrieb es der hellsichtige George Orwell 1947. Den Bevölkerungsmassen der alten europäischen Mächte sei „nie klargemacht worden, dass sie, gemessen am globalen Standard, über ihre Verhältnisse leben“. Gerade wird es uns klargemacht. Eine Minderung ihres gewohnten Wohlstands aber ertragen Menschen nur, wenn sie keine Alternative sehen. Oder ein lockendes Ziel für die Verluste eintauschen können.

Was, wenn nicht der Zustrom von Migranten, wäre geeignet, neue linke Energien zu entzünden?

Begeisterung für Fernziele zu nähren, diese mit realistischen Schritten zu verbinden – das war die Stärke der alten, der Bebel’schen Sozialdemokratie. Aber das war einmal. Gianis Varoufakis, der jüngst in Berlin für einen „Plan B für Europa“ und eine Neubesetzung der politischen Leerstellen warb, hatte tausend Zuhörer, aber erntete in der verfassten Öffentlichkeit bestenfalls ironische Kommentare.

Dabei lassen sich für eine Behauptung der europäischen Werte im 21. Jahrhundert die großen Ziele und die kleinen Schritte durchaus angeben. Eine Demokratisierung der arkanen Machtzentren Eurogruppe und EZB als Voraussetzung einer paneuropäischen Sozial- und Fiskalregierung; soziale Mindeststandards, die Überwindung der strukturellen Arbeitslosigkeit; eine Reform der Welthandelsordnung; eine gesamteuropäische Industrie- , Energie- und Medienpolitik. Blaupausen für ein solches Europa gibt es zuhauf, in der Zivilgesellschaft werden sie diskutiert, in den Politikerbüros abgelegt, in Brüssel von den nationalen Eliten und den Lobbys der Finanzmächtigen blockiert.

Aber wenn Churchills Satz mehr ist als ein bloßes Bonmot: Was, wenn nicht die Dramatik der Migrantenströme, wäre geeignet, neue linke Energien zu entzünden? Wann, wenn nicht jetzt – im Tiefpunkt der Desillusionierung über das neoliberale Europa und in der Gewissheit, dass nichts bleiben wird, wie es ist – bestünde die Chance der millionenfachen Bereitschaft, eine veränderte Gegenwart zu gestalten, neue Foren und Formen zu geben? Das Anti-TTIP-Bündnis vergangenen Samstag lässt hoffen. Aber Projekte kann man nachhaltig nicht mit Manifesten und Demonstrationen, sondern letztlich nur mit Projekten bekämpfen.

Feudalismus und Barrikaden

Veränderte Mentalitäten wachsen nicht aus „Wertegemeinschaften“, sondern aus gemeinsamem Handeln. Aus dieser Erkenntnis heraus schlug Jacques Delors gleich nach dem Ende des gefälschten Sozialismus große europäische Industrieprojekte vor, etwa mit Hochgeschwindigkeitstrassen von Lissabon über Berlin und Warschau nach Moskau. Und er plädierte für ein grenzübergreifendes Sozialjahr für junge Europäer.

Migrationsschub, anhaltende Jugendnot und schrumpfendes Wachstum sind vielleicht keine schlechte Zeit, um alte Blaupausen wieder herauszuholen: nicht nur die industriepolitischen und die vom paneuropäischen Sozialjahr. Und wer? Es gibt Tausende von Projekten in Europa, kleine und mittelgroße, die sich in eine „große Strategie“ einpassen ließen, Millionen von Bürgern tragen sie. Vielleicht ist es an der Zeit, ihnen eine politische Form zu geben. Und das a tempo. Damit nicht die anderen die Krise nutzen. Das hat schon wieder angefangen: etwa mit der „sinnigen“ Idee, den Flüchtlingen die Integration zu erleichtern durch die Abschaffung des Mindestlohns.

„Sie und ich und Ihre Leser“, so sagte es „Deutschlands einflussreichster Ökonom“ der Zeit, „werden die Gewinner der Zuwanderung sein. Wir werden leichter an eine Putzfrau kommen oder unser Auto waschen lassen.“ Es wäre der Weg in die Refeudalisierung Europas. Auf den Feudalismus folgten die Barrikaden. Stellen wir uns also darauf ein.

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13 Kommentare

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  • Unterschied:

    Churchill redete - und dann setzte er um.

    Pausenlos.

    Der Mann war glaubwürdig und beliebt.

    Der sprach Fakten.

    Merkel:

    Reden zum Ruhigquatschen.

    Weg- und Kleinreden von Problemen.

    Wie bei der Einheit -

    oben schöne Worte -

    unten das Geld aus der Sozialversicherung ziehen.

    Also die Normalbervölkerung zum Zwangsgutmenschen machen.

    Die Kleinverdienenden haben es am schlechtesten - die werden die Konkurrenz der "Neuen "schnell spüren.

    Die Besserverdienenden verdienen eher dran.

    Das erklärt vieles.

    Das ist einfach unglaubwürdig und schäbig.

  • Und wie wird der ganze "Spaß" finanziert?

     

    Wenn man sich die heutigen Meldungen über die 2016 anstehenden Beitragsanhebungen der gesetzlichen Krankenkassen zu Gemüte führt, kommt ein böser Verdacht auf: Immer dann, wenn ein gesellschaftlicher Kraftakt ansteht, wird ein großer Teil der Kosten dafür auf die Sozialsysteme verlagert. Die pflichtversicherten Arbeitnehmer und Rentner werden auch diesmal bluten müssen, während andere Bevölkerungsgruppen (vor allem die mit höherem Einkommen) überwiegend "außen vor bleiben".

     

    Wer’s nicht glaubt, sollte sich nur einmal die offiziellen Zahlen zu den Kosten der deutschen Vereinigung sowie deren Verteilung ansehen. Die Vereinigung musste natürlich finanziert werden, aber auf welche Weise es geschah, war nichts als ein eklatanter Skandal. Und jetzt scheint der nächste zu folgen...

     

    Die Versorgung der Flüchtlinge ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Diese sollte aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden. Aufwendungen, die in diesem Zusammenhang von Krankenkassen erbracht werden, müssten daher als versicherungsfremde Leistung aus dem Bundeshaushalt erstattet werden.

     

    Es steht jedoch zu befürchten, dass sich im Bundestag wieder eine große Mehrheit dafür finden wird, die „eleganteste“ Finanzierungsmöglichkeit zu präferieren: Das Abwälzen der Kosten auf die Pflichtversicherten (das hat sich ja schon öfter als Mittel der weiteren Umverteilung von unten nach oben bewährt).

    • @Urmel:

      Genau so wird es kommen. Auf die Idee,

      - die Vermögenssteuer wieder einzuführen,

      - die Einkommenssteuer wieder auf ein gerechtes Maß heraufzusetzen,

      - bei den Sozialabgaben auch die Besserverdienenden proportial zu beteiligen,

      - vorhandene Steuergesetzgebung konsequent zur Anwendung zu bringen,

      - Steuerflucht innereuropäisch zu bekämpfen und die Konzeren dazu zu zwingen, angemessene Steuern zu zahlen,

      - Subventionen zugunsten der ohnehin Privilegierten zu streichen,

      - keine Banken mehr zu retten,

      - eine gerechte und einträgliche Finanztransaktionssteuer zu ermöglichen,

      - etc. pp ...

       

      kommt unsere Marionettenregierung nicht. Wir brauchten keine Sozialleistungen einzuschränken, jeder könnte eine auskömmliche Rente beziehen, die Infrastruktur des Landes könnte saniert werden, die Bildungsförderung optimiert werden, jedem armen Deutschen könnte geholfen werden - und auch Flüchtlinge wären zumindest kein finanzielles Problem mehr.

       

      Denn Deutschland verfügt über ein immenses Kapital und Vermögen, das nur gerechter verteilt werden müßte. Dies würde keinem wehtun. Stattdessen werden die finanziell Schwächeren und natürlich der Mittelstand weiter ausgeblutet und mit weiteren Belastungen konfrontiert.

       

      Wie lange wollen wir uns dies noch bieten lassen?

    • 1G
      10236 (Profil gelöscht)
      @Urmel:

      Vor einiger Zeit gab es in der "Zeit" ein Interview mit einer Soziologin (müssen nicht immer Ökonomen sein), die etwa die gleiche Problematik und Lösungsvorschläge angesprochen hatte. Auch vor der SPD-Bundestagsfraktion. Da wurde sie (bzw. ihre Vorschläge) nur belächelt und als "realitätsfern" abgetan.

       

      Eher erleben wir eine Neuauflage der Agenda 2010 als eine Lastenverteilung, die zumindest nicht die Ungleichheit vergrößert.

  • "Den Bevölkerungsmassen der alten europäischen Mächte sei „nie klargemacht worden, dass sie, gemessen am globalen Standard, über ihre Verhältnisse leben“. Gerade wird es uns klargemacht."

     

    Ach ja? Von wem denn? Die deutschen Cheffe Gauck & Merkel, an deren Lippen die ganze Nation samt TAZ hängen, haben solches noch nicht zu sagen gewagt.

  • Hier wird aus der Fluchtwelle (pegidakonform) gleich eine Völkerwanderung gemacht. Wellen ebben aber wieder ab. So war es mit den Fluchtwellen nach dem Weltkrieg, nach dem Kosovokrieg und vor der DDR-Grenzöffnung, so wird es auch diesmal sein. Noch ehe die Fluchtursachen selbst verschwinden, wird das Kontingent jener Leute aufgebraucht sein, die wirklich den Mut, die Kraft und die Mittel aufbringen, sich auch den Weg zu machen.

     

    In spätestens zwei Jahren ist die "Völkerwanderung" nur noch alle paar Wochen Thema, einspaltig auf Seite 4.

  • Diese an Carl Schmitt erinnernde These vom Ausnahmezustand ist selbstverständlich nichts anderes als ein Feigenblatt der Unfähigkeit zur Bewältigung des Alltags. Ein Aufruf in dieser Richtung hat nur Militarismus im Sinn.

    MfG.

  • Ausgerechnet einen Rassisten wie Churchill hierzu zitieren? https://hogymag.wordpress.com/2015/01/25/winston-churchill/

    I do not admit for instance, that a great wrong has been done to the Red Indians of America or the black people of Australia. I do not admit that a wrong has been done to these people by the fact that a stronger race, a higher-grade race, a more worldly wise race to put it that way, has come in and taken their place.

  • Der Herr IfO-Sinn hat dies wohl gesagt. Naja, der Weg in die Refeudalisierung ist doch schon seit spät. der Jahrtausendwende im Gange. "Steuerausländer", also Konzerne, die weltweit, die prekären Arbeitssituation vorbereitet durch Regierungsgesetz-gebungen einführen, die Jobs und tatsächliche Selbstständigkeiten auf Sicht unbezahlbar machen und zeitgleich Milliarden verdienen und keine Steuern zahlen. Steueroase D, die auch hierzulande den Konzernen keine Abgeltungssteuer auf Guthabenzinsen berechnet. Nicht davon gesprochen, das versch. Produkte des täglichen Bedarfs in 10 Jahren fast den Preis verdoppeln. Wo geschieht dies auf dem Arbeitsmarkt mit den Löhnen? Welche Schere geht hier auseinander. Die Aussage von Herrn Sinn ist ja fast schon "ehrlich", als das diese als "dumm" durchgehen könnte. Da wird es ein launiges Erwachen für so manchen in D geben, wer in Zukunft putzt oder das Auto wäscht. Ich vermute, die Angesprochenen selber.

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    "Was, wenn nicht die Dramatik der Migrantenströme, wäre geeignet, neue linke Energien zu entzünden? Wann, wenn nicht jetzt – im Tiefpunkt der Desillusionierung über das neoliberale Europa und in der Gewissheit, dass nichts bleiben wird, wie es ist – bestünde die Chance der millionenfachen Bereitschaft, eine veränderte Gegenwart zu gestalten..."

     

    Der Aufwand und die Zeit, die vom, nennen wir es so, Neoliberalismus investiert wurden, damit die Volkswirtschaften dieser Welt "wettbewerbsfähiger", unsozialer und ungleicher werden, glichen in etwa dem Aufwand und der Zeit, damit der Pendel (vielleicht) wieder in ander Richtung ausschlägt. Kaum jemand vom, nennen wir es so, Establishment hat ein nur geringstes Interesse daran. Und die manipulatorisch-propagandischen Fähigkeiten von "Eliten" sollte man nicht unterschätzen.

  • 2G
    2097 (Profil gelöscht)

    "„Sie und ich und Ihre Leser“, so sagte es „Deutschlands einflussreichster Ökonom“ der Zeit, „werden die Gewinner der Zuwanderung sein. Wir werden leichter an eine Putzfrau kommen oder unser Auto waschen lassen.“"

     

    Ah ja, und die bisher schon Hartz IV und zur Tafel gehen mussten, werden sich halt auf mehr Gerangel und längere Schlangen einstellen müssen. Auf solche sozialkalten Ökonomen kann dieses Land wohl gut verzichten!

    • @2097 (Profil gelöscht):

      Im Ergebnis ist es aber für das untere Fünftel? Viertel? Drittel? ganz gleich, ob die Zuwanderung von Herrn Sinn begrüßt wird, weil er von billigeren Dienstleistungen zu profitieren hofft;

      oder vom studierenden Nachwuchs aus dem linksliberalen Mittelstand, der aus ethischen Prinzipien unbegrenzten Flüchtlingszuzug befürwortet und von den sozialen Folgen der Migration vermutlich auch eher die billige Putzfrau haben wird als die Konkurrenz bei der Tafel.

  • Ich schreib mir die Welt wie sie mir gefällt. Systemgewinner Geldeliten also finden billiger einen der Autos wäscht? Wie krank ist das denn? Heute schon findet sich bei entsprechender Bezahlung immer einer der putzt und Wagen wäscht. So sind sie halt, die Neokapitalisten. Hauptsache noch mehr Gewinn in immer die gleichen Taschen. Schon die erste Agenda hat viele entrechtet und ärmer gemacht. Und nun werden die ewigen Systemgewinner wieder den Reibach machen. Deutsches Prekariat? Nur unnützer zu teurer Ballast!