Im niedersächsischen Grauschleier, am Hauptbahnhof für Arme und mit einem flanellbehemdeten Songwriter im Klub Monarch
: Aufbruch in Richtung anderes Leben

Ausgehen und Rumstehen

von Jens Uthoff

Der Samstag beginnt im Flixbus. So nennt sich der Fernbus, der mich von Bremen zurück nach Berlin transportieren soll und aus dem heraus ich mit müden Augen – irgendwo in Niedersachsen – die aufgehende Sonne beobachte. Eine Schicht aus Tau und Nebel liegt da über den Feldern bei Achim oder Dörverden oder wie die Käffer da heißen; wie ein Tennisball leuchtet die Sonne matt hinter diesem Grauschleier.

Toll sieht das aus; die Bäume im Dunst, die sumpfigen Wiesen im Vordergrund, wie von Caspar David Friedrich gemalt. Sonnenaufgang, norddeutsche Tiefebene = großes Kino.

Während das Flachland hinter den Busfenstern weiter an uns vorbeizieht, hole ich Schlaf nach wie fast jeder und jede hier; nur einmal werde ich wach, als der Busfahrer verkündet, dass wir gut durch eine Großbaustelle gekommen seien und vermutlich „on time“, wie das im Flieger hieße, in Berlin sein werden. Wir erreichen den ZOB tatsächlich am frühen Mittag.

Ein faszinierender Ort, dieser ZOB, von wo aus man nach halb Europa fahren kann. Auch wenn so ein Flixbus oder Mein Fernbus oder Postbus nicht gerade Greyhound-Feeling vermittelt, wirkt dieser Ort doch irgendwie wie ein Refugium der Hoffnung, an den man gehen kann, wenn man mal Richtung anderes Leben aufbrechen möchte. Und nebenan, bei Aral, ist der Treffpunkt für die ganzen Mitfahrgelegenheiten. Hier die Billigbusse, da die günstigen Privatchauffeure – der Ort draußen an der Messe ist eine Art Hauptbahnhof für Arme.

Wieder in der Stadt, ist schwer zu übersehen, dass Marathonwochenende ist: Überall sind Straßen freigeräumt und gesperrt, man sieht viele Leute in der U-Bahn mit Berlin-Marathon-Accessoires. Sportlich geht das Wochenende auch für mich weiter – allerdings auf dem Fußballplatz. Da dieses Kapitel des Wochenendes allerdings mit einer schmerzvollen Niederlage der eigenen Mannschaft enden soll, schlagen wir es doch gar nicht erst auf!

Und widmen uns stattdessen: Ed Askew. So heißt der New Yorker Singer-Songwriter, der am Abend im Monarch nahe dem Kottbusser Tor auftritt. Askew, 74 Jahre alt, ist einer der vielen vergessenen Granden dieses Genres, die zuletzt von jüngeren Musikliebhabern des Labels „Drag City“ entdeckt wurden. Die ermöglichten ihm neue Alben und Touren.

Und wie dieser Kerl nun mit braunem Hut, kariertem Flanellhemd, Hosenträgern und Kassenbrille (wie wir hier sagen würden) auf dem Barhocker sitzt, vor sich einen Notenständer, und wie seine Stimme mal brüchig, mal voll klingt – das ist großartig zu erleben. Er wird dezent von zwei um einiges jüngeren Musikern an Gitarre und Keyboard begleitet; den Raum aber füllt sein Gesang.

Zwischendurch pflückt sich Askew eine Mundharmonika aus der Tasche, vor dem grauen Bart flattern nun die Hände zum Mundorgelsound. Früher Dylan, später Cash, Townes Van Zandt – derartige andere Musiker fallen einem ein, wenn man Ed Askew zuhört. Im gut gefüllten Monarch ist es größtenteils mucksmäuschenstill, nur einige offenbar sehr besoffene Typen quatschen gegen Ende hörbar laut. Nerv.

Askew erzählt nach dem Konzert am Tresen, dass er – der immerhin vor fast 50 Jahren sein Debütalbum aufnahm – zum ersten Mal überhaupt in Berlin gespielt habe. Für ihn, der als Musiker und Maler nie wirklich Geld verdiente, Fabrikjobs machte oder zuletzt als Kunstlehrer arbeitete, muss das wie ein Segen im fortgeschrittenen Alter sein, nun noch einmal die Bühnen der Welt bespielen zu können.

Als Ed Askew sich Richtung Platten-Verkaufsstand verabschiedet, macht ein zugekokster Typ am Tresen etwas Ärger: Er räumt neben mir ein paar Gläser von der Theke ab. Nochmals: Nerv.

Im Monarch läuft derweil unglaublich geschmackvoller Soul-, Funk- und Easy-Listening-Kram. Leider muss ich gegen eins los, weil am nächsten Morgen frühes Aufstehen angesagt ist. Zu Hause höre ich zum Einschlafen noch die zuvor erworbene Schallplatte. Ed Askew singt ein Lied für Gertrude Stein und huldigt ihr mit ihren Zeilen: „Rose is a rose is a rose is a rose“.

Der Rest des Wochenendes – ein bisschen Arbeit, ein bisschen Sonne im Park – ließ sich mit diesem Album und diesem Song doch gleich viel besser an.