Berliner Szenen: Quatsch gegen Lob
Der Mantel
Ich traf mich mit einer Freundin, die ich ein gutes Jahr nicht gesehen hatte. In einem Café in der Dieffenbachstraße in Kreuzberg tauschten wir uns über die vergangenen Monate aus. Dann fuhren wir in den Kindergarten, um ihren zweieinhalbjährigen Sohn Anton abzuholen. Mir war klar, dass er mich nach so langer Zeit nicht einmal mit seinem kleinen Hintern anschauen würde. Doch da hatte ich mich getäuscht.
Als wir auf dem Spielplatz des Kindergartens waren, sah ich klein Anton schon von weitem im Sandkasten. Man kann nicht sagen, dass er mich wiedererkannte, aber es war auch nicht so, dass er mich wie eine Fremde behandelte. Er war freundlich und aufgeweckt und ich war beeindruckt, wie wunderbar er schon reden konnte.
Nur sein Geruch störte ein wenig. Als ich ihn hochhob, um ihn zu begrüßen, hob ich mit ihm einen sehr starken Geruch in die Höhe, der aus seiner Windel kam. Ich begleitete die Mutter in den Wickelraum der Kita, wo sie ihrem Sohn eine frische Windel verpasste. Während sie den kleinen Scheißer versorgte, machte ich Quatsch mit ihm und freute mich, wenn ich ihn zum Lachen brachte.
Dann schaute mich klein Anton einige Sekunden aufmerksam aus seinen großen Augen an und sagte einen Satz, der mich noch Tage danach beeindruckte: „Der Mantel ist schön.“ Ich kriegte meinen Mund nicht mehr zu. Dieser Satz von dem Zwerg machte mich sprachlos. Kann ein Kind von zweieinhalb Jahren Komplimente machen? Ich glaube nicht. Aber wirklich sicher bin ich nicht. Denn der hellbraune Ledermantel ist, das hatte Anton richtig erkannt, wirklich schön. Er ist aus den 1960er Jahren und ich habe ihn vor vielen Jahren in einem Secondhand-Geschäft gekauft. Jetzt trage ich ihn noch viel lieber als vorher schon.Barbara Bollwahn
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