Zu jung für Hilfe?

AKTIV Beim Kongress der Straßenkinder in Berlin zeigt sich, wie politisch das Private ist. Und welche Kompetenzen obdachlose Jugendliche aus ihren Erfahrungen entwickeln

„Rückt euch ins Bild!“: ein Foto-Mensch-Projekt von Babette Brühl auf dem Kongress der Straßen- und Flüchtlingskinder Foto: Joanna Kosowska

von Alke Wierth

Chaotisch, bewegend, politisch: Beim 2. Bundeskongress junger Obdachloser konnte eindrucksvoll gelernt werden, wie aus buntem Chaos kompetente politische Forderungen entstehen. Mehrere hundert TeilnehmerInnen aus ganz Deutschland hatten sich am Freitag im FEZ in der Wuhlheide getroffen, um über Probleme junger Obdachloser und deren Lösungen zu debattieren – Punks, PolitikerInnen, Sozialarbeiter, erstmals auch Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Deutschland kamen. An 15 Diskussionstischen ging es um „Das Jugendamt und ich“, „Wohnen“ oder „Gesetzeskonflikte“.

Nicht ihnen schenkten Jugendamtsmitarbeiter Glauben, sondern lieber ihren Eltern, vor denen viele Straßenkinder flüchteten, berichten Betroffene. Hilfe folge nicht menschlichen, sondern allein finanziellen Erwägungen oder absurden Vorschriften, klagen andere: Ihr sei eine Drogentherapie verweigert worden mit der Begründung, sie sei zu jung, berichtet eine junge Frau.

Von 30.000 Kindern und Jugendlichen, die von privaten oder staatlichen Institutionen wie Familie, Schule, sozialer Unterstützung „entkoppelt“ seien, gehe man bundesweit aus, sagt Jörg Richert, Leiter des Berliner Vereins Karuna, der Anlaufstellen bietet für „Kinder in Not“. Etwa 7.000 davon seien tatsächlich obdachlos. Genaue Zahlen gebe es nicht: „Aber die 100 Notübernachtungsplätze für Jugendliche, die Berlin anbietet, reichen nicht“, so Richert.

Eine Forderung der Straßenkinder an die Politik lautet deshalb, das Prinzip „Housing First“, das etwa in den USA oder Skandinavien erfolgreich genutzt wird, auch in Deutschland anzuwenden. Es bedeutet: Obdachlose Kinder und Jugendliche mit Wohnraum zu versorgen, ohne damit Bedingungen zu verknüpfen. Das falle selbst SozialarbeiterInnen nicht leicht, sagt Richert, auch ihm nicht: „Wir in Deutschland haben mit dieser Vorgehensweise ein kulturelles Problem.“ Doch die hier meist angewandte Forderungs- und Sanktionspädagogik „entmündigt Jugendliche auf dem Weg zur Verselbstständigung“.

Der Straßenkinderkongress geht andere Wege: „Wir suchen nach Impulsen, die nicht von Sozialarbeitern stammen“, so Richert. Straßenkinder bereiten die Konferenz vor und entscheiden über deren Themen. Ihre Erfahrungen werden so zu Kompetenzen: für viele ein Weg, eigene Perspektiven abseits der stets verspürten gesellschaftlichen Ablehnung zu entwickeln.

Er wolle „unabhängig leben, auf einem Dorf, mit Freunden, außerhalb des Systems“, sagt der jetzt 25-jährige Dave, der acht Jahre auf der Straße lebte. Er berichtet, welche Probleme auftauchen, wenn sich obdachlose Jugendliche entscheiden, Hilfe anzunehmen: „Ich musste tausend Papiere besorgen.“ Als er als 13-Jähriger seine Familie verlassen hatte, habe er eben nicht daran gedacht, seine Geburtsurkunde mitzunehmen.

Wie kann Kindern und Jugendlichen beim Leben auf der Straße, beim Umsetzen eigener Zukunftspläne geholfen werden? Die auf der 2. Straßenkinderkonferenz zusammengetragenen Vorschläge sollen der Politik übergeben werden. Sie werde sich dafür einsetzen, „dass eure Stimme Gehör findet“, versprach Bundesjugendministerin Manuela Schwesig (SPD) den Teilnehmern.