: Wie viel Orte zum Gebären braucht ein Land?
Verödung In Schleswig-Holstein geht die Zentralisierung weiter: Nun schließt auch die Geburtsklinik auf Föhr. Und sie dürfte nicht die letzte sein
Die Plakate waren aus Bettlaken gebastelt, darauf die Botschaft in Großbuchstaben: „Kreißsaal muss bleiben!“ Rund 40 FöhrerInnen protestierten Mitte September in Wyk für den Erhalt der Geburtsstation im Inselkrankenhaus. Deren Tage sind gezählt. Die Klinikleitung und der Kreis als Träger des Klinikums Nordfriesland haben sich entschlossen, künftig keine eigene Station für Entbindungen auf der Insel mehr vorzuhalten.
Damit folgt Föhr der Nachbarinsel Sylt, auf der bereits Ende 2013 die Geburtsklinik im Krankenhaus geschlossen wurde. Das Bedauern im Kieler Sozial- und Gesundheitsministerium hält sich in Grenzen – tatsächlich deutet ein aktueller Bericht des Ministeriums an, dass vermutlich weitere Geburtskliniken schließen werden.
Die Krankenkassen wie auch eine Reihe von Fachärzten begrüßen die Zentralisierung. Protest kommt von den Hebammen: Sie sehen die Versorgung von Schwangeren auf den Inseln zusammenbrechen, wenn die auf Föhr und Amrum tätigen Geburtshelferinnen ihren Job aufgeben müssen. „Wir sind in großer Sorge, ob gerade in den Wintermonaten – wenn der Einsatz von Seenotkreuzern und Hubschraubern schwierig sein kann – der Transport in eine Klinik auf dem Festland gewährleistet ist“, so Margret Salzmann, Vorsitzende des Hebammenverbandes in Schleswig-Holstein.
Allerdings sollen nach den Plänen des Kreises solche Notfall-Transporte kurz vor einer Entbindung nicht vorkommen. Schwangere könnten bereits mehrere Tage vor dem Entbindungstermin in ein „Boarding“-Haus in Niebüll ziehen, nahe an die Klinik. Dieses Modell wurde auch für Sylt eingeführt, deren Schwangere in ein Boarding-Haus in Flensburg gehen können.
Wie viele Orte zum Gebären braucht ein Land? Gesetzlich geregelt ist das nicht, das Land beruft sich auf Vergleichs- und Erfahrungswerte. Die wichtigste Frage: Wie lange muss eine Schwangere fahren, um eine Klinik zu erreichen? Zurzeit sind es im Landesschnitt 21 Minuten, zugrunde gelegt wird eine Strecke von durchschnittlich 17,3 Kilometern.
Den längsten Anfahrtsweg haben Frauen von Helgoland, die 105 Kilometer zurücklegen müssen – die Helgoländer Geburtsstation wurde bereits 2004 geschlossen. Das geschah „unproblematisch und fern der Medien“, so Doris Scharrel, Landesvorsitzende des Berufsverbands der Frauenärzte. Seither reisen Schwangere rechtzeitig aufs Festland, denn „wer auf den Inseln oder auf dem Lande lebt, stellt sich auch auf das Ereignis der Geburt ein“, so Scharrel.
Tatsächlich bereiten sich viele Frauen heute anders auf eine Geburt vor als noch vor einigen Jahren: Sie vergleichen im Internet, lesen Tipps anderer Mütter. Und oft fällt die Wahl des Kreißsaals nicht auf den nächsten, sondern auf den mutmaßlich besten. Also auf Krankenhäuser, die nicht einfach nur eine Geburtsstation, sondern ein komplettes Perinatalzentrum mit Notfall-Hilfen für Mutter und Kind haben. Elf dieser Zentren gibt es in Schleswig-Holstein. Ihnen stehen – Föhr nicht mehr mitgezählt – zehn Geburtskliniken gegenüber. Fast alle liegen in kleineren Orten, allein drei im Hamburger Speckgürtel. Im Bericht der Landesregierung klingt an, dass in den kommenden Jahren durchaus weitere verschwinden könnten.
Eine Studie von 2003 stellte fest, dass in größeren Krankenhäusern weniger Säuglinge sterben – entsprechend setzt die Landesregierung auf „safety first“ und propagiert weniger, aber besser ausgestattete Kliniken. Gleichzeitig gibt es immer weniger Geburten. Kamen 1990 über 29.000 Schleswig-HolsteinerInnen zur Welt, waren es 2014 noch knapp 23.000. Esther Geißlinger
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