Mega, mega, mega

URBAN 130 Millionen Einwohner auf fast 215.000 Quadratkilometern: In Peking und seinem Umland soll die Metropolenregion Jingjinji entstehen

Nachts im Pekinger Central Business District Foto: Wang Qian/imagechina/laif

Aus Peking Felix Lee

He Xie sieht sich unter den Glücklichen. Vor neun Jahren hatte er mithilfe der Ersparnisse seiner Eltern die Zweizimmerwohnung in unmittelbarer Nähe von Pekings Dritter Ringstraße gekauft. Dabei war die Wohnung auch damals nicht in einem guten Zustand. Die Wände des siebenstöckigen Gebäudes aus den frühen 1950er Jahren sind schlecht isoliert. Im Treppenhaus türmt sich der Müll. Die Wohnung selbst besteht aus zwei spärlich eingerichteten Zimmern, einer kleinen Küche, einem ebenso kleinen Bad und einem dunklen Flur, in dem ein eckiger Ess­tisch steht. Der Putz fällt von den Wänden, aus dem Klo riecht es unangenehm. Und das Küchenfenster ist auch nicht dicht.

Und trotzdem ist He Xie heute froh, dass er damals zugeschlagen hatte. Denn wer heute innerhalb von Pekings Dritter Ringstraße eine Wohnung besitzt, gilt als reich. So auch He. Umgerechnet rund 85.000 Euro hatte er damals für die knapp 80-Quadratmeter-Wohnung ausgegeben. „Heute ist sie über 5 Millionen Yuan wert“, sagt er, umgerechnet rund 700.000 Euro. „Ich könnte mir eine solche Innenstadtwohnung heute nicht mehr leisten.“ Und er rechnet mit einer weiteren Wertsteigerung in den nächsten Jahren. Dank des Ausbaus Pekings zur Megame­tropole Jingjinji.

2030

„Innenstadt“ ist in Peking heute ein weit gedehnter Begriff. Wer vor 25 Jahren wie He am Dritten Ring wohnte, lebte am Stadtrand. Der Tiananmen-Platz, Pekings geografische Mitte, ist rund 10 Kilometer Luftlinie entfernt. Zwar zählte die chinesische Hauptstadt schon damals knapp sechs Millionen Einwohner. Doch im Osten der Stadt hörte das urbane Stadtgebiet jenseits des Dritten Rings auf. Dahinter gab es nur noch Felder, landwirtschaftliche Betriebe und vereinzelt ein paar Siedlungen und Fabrikanlagen.

Heute zählt Pekings Ballungsraum mehr als 20 Millionen Einwohner, riesige Hochhaussiedlungen erstrecken sich bis zum Sechsten Ring. Und dabei soll es nicht bleiben. Geht es nach dem Willen der chinesischen Führung, wird Peking bis spätestens 2030 mit der benachbarten Hafenmetropole Tianjin und der umliegenden Provinz Hebei zu einem gigantischen Ballungsraum zusammenwachsen. Jingjinji soll die Megametropole heißen (von Beijing,Tianjin und Ji, dem traditionellen Namen der Provinz Hebei) und auf fast 215.000 Quadratkilometer – das ist fast die doppelte Fläche der Ex-DDR – 130 Millionen Einwohner zählen. Das entspricht der Bevölkerung von Deutschland, der Schweiz, Österreich und Polen zusammen.

Der Prozess ist bereits in vollem Gange. Um das dichte und von Autos völlig verstopfte Zentrum zu entlasten, hat die Pekinger Stadtverwaltung im Juli beschlossen, alle ihre Verwaltungseinheiten nach Tongzhou zu verlegen, bislang ein ländlicher Vorort im Südosten der Hauptstadt. Auch Behörden, Krankenhäuser und Universitäten werden verstärkt ins Umland verlegt, ebenso große Industrieanlagen. Auch einige Staatsunternehmen müssen mit ihrem Hauptsitz in die Provinz Hebei ziehen.

Pekings neuer Flughafen mit sieben Start-und-Lande-Bahnen, der bei seiner Vollendung ab 2017 mehr als 120 Millionen Passagiere im Jahr abfertigen soll, entsteht ebenfalls – mit Blick auf Jingjinji – sehr weit draußen vom derzeitigen Pekinger Stadtzentrum entfernt auf einem Gebiet, das bereits zur Provinz Hebei gehört. Kurz vor der Vollendung steht der Siebte Ring. Er ist fast 1.000 Kilometer lang.

Die Entstehung von Ballungsräumen mit 50 Millionen Einwohnern und mehr sind für China keineswegs ein Novum. Das Perlflussdelta im Süden des Landes mit den Metropolen Shenzhen, Guangzhou und der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong wächst derzeit zu einer Metropolregion zusammen und zählt derzeit über 40 Millionen Einwohner. Auch das Jangtse-­Delta zwischen Schanghai und den umliegenden Großstädten Su­zhou, Hangzhou, Wuxi bis hin­auf nach Nanjing ist ein riesiger Ballungsraum mit Tausenden von Hochhaussiedlungen und Industrieanlagen, verbunden über achtspurige Autobahnen und moderne Schienen für Hochgeschwindigkeitszüge. Das Jangtse-Delta zählt bereits um die 100 Millionen Einwohner.

Mit diesen beiden Ballungsräumen will die Hauptstadtregion Peking mithalten. Und das ist keineswegs utopisch. Neben Peking und der rund 100 Kilometer entfernten 13 Millionen Einwohner zählenden Hafenstadt Tianjin gibt es im Umland mit Baoding und Shijiazhuang zwei weitere 10-Millionen-Städte. Die umliegenden Städte Tangshan und Cangzhou zählen rund sieben Millionen Einwohner, Lancang, Chengde und Zhangjiakou jeweils vier Millionen. Zusammengenommen leben in dieser Region bereits mehr als 80 Millionen Menschen.

Bislang werden diese Städte jedoch weitgehend unabhängig voneinander verwaltet. Zhu Erjuan, Professor für Stadtplanung an der Hauptstadt-Universität für Wirtschaft und Finanzen in Peking, ist daher von den Plänen überzeugt. „Die Reorganisation der Region wird die Wettbewerbsvorteile der einzelnen Bereiche und zugleich die Zusammenarbeit in der Region fördern“, ist sich der Stadtplaner sicher.

Trotzdem ist auch Skepsis angebracht: Um wirklich zu einem Raum zusammenzuwachsen, muss ein umfassendes Verkehrssystem sie miteinander verbinden. Bislang verkehrt nur zwischen Tianjin und Peking ein Hochgeschwindigkeitszug, der alle zehn Minuten fährt und für die rund 150 Kilometer eine halbe Stunde braucht.

Die Faustregel der Stadtplaner heißt: Der mögliche Durchmesser von Ballungsräumen ist bei Nutzung schneller Lokalbahnen auf ungefähr 100 Kilometer begrenzt, da die Fahrt von einem Punkt zum anderen nicht länger als eine Stunde dauern sollte. Genau hier stoßen die meisten existierenden Ballungsregionen dieser Welt an ihre Grenzen: Sie werden zu groß für ihre öffentlichen Verkehrsmittel; die Fahrzeit zwischen zwei Punkten dauert zu lange.

Unendliche Weite

Innenstadt“ ist in Peking ein weit gedehnter Begriff. Der Tiananmen-­Platz, Pekings geografische Mitte, ist rund 10 Kilometer Luftlinie vom Dritten Ring, dem früheren Stadtrand, entfernt

400 Stundenkilometer

Die chinesische Führung glaubt, dieses Problem mit ihren modernen Hochgeschwindigkeitszügen lösen zu können. Bei einer Geschwindigkeit von bis zu 400 km/h ließe sich der Radius der Megametropole auf bis zu 500 Kilometer ausweiten.

Den Bau von 27 zusätzlichen Hochgeschwindigkeitsverbindungen für die Region hat die Zentralregierung in Peking bereits beschlossen.

„Ein kühner Plan“, sagt der in Schanghai lebende Stadtplaner Jason Wu. Schließlich sei es etwas anderes, alle paar Kilometer einen Großbahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge ins Stadtgebiet zu setzen als eine S-Bahn-Station.

Doch selbst wenn Pekings ehrgeizige Pläne umgesetzt werden – zumindest alteingesessene Pekinger wie He Xie erwarten, abgesehen vielleicht von noch weiteren Wertsteigerungen ihrer Wohnungen, keine großen Veränderungen. Wahrscheinlich werde Jingjinji einfach nur das, was weite Teile Chinas schon seit Jahren sind: eine unglaubliche dichte Ansammlung von Millionenstädten, sagt He. „Und das sind wir Chinesen gewohnt.“