Reform gegen das Vergessen

PFLEGE Demente sollen die gleichen Ansprüche in der Versicherung bekommen wie körperlich Behinderte. Fünf Milliarden extra kostet der Paradigmenwechsel pro Jahr

Der Staat will sich mehr um Demente kümmern Foto: Jens Büttner/dpa

Aus Berlin Heike Haarhoff

„Mir geht es um eine Gesellschaft, die achtsamer wird und Rücksicht nimmt, mir geht es um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, um Bewegungsfreiheit, Schutz und Unterstützung.“ Es waren große Worte, die der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) am Montag in Berlin fand, um am Welt-Alzheimertag seine Pläne für eine deutliche Besserstellung demenzkranker Menschen innerhalb der Pflegeversicherung zu verteidigen.

Die Reform, der Gröhes Ministerium den sperrig-drögen Namen „Pflegestärkungsgesetz II“ gegeben hat, beschreibt einen Paradigmenwechsel in der Pflegepolitik: Erstmals sollen demente Patienten den exakt gleichen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung haben wie körperlich behinderte Menschen.

Bislang wurden kognitive Einschränkungen in der Pflegeversicherung kaum berücksichtigt – was Sozialverbände, Betroffene und Angehörige seit Jahren bemängeln. „Es gab verständliche Ungeduld“, räumte Gröhe ein. Der neue sogenannte „Pflegebedürftigkeitsbegriff“, der die Benachteiligung der Dementen beenden soll, soll nach dem Willen der Großen Koalition 2016 eingeführt und ab Anfang 2017 komplett umgesetzt werden. Ende dieser Woche beraten ihn Bundestag und Bundesrat.

Experten schätzen, dass zum Stichtag der Umstellung am 1. Januar 2017 insgesamt 2,8 Millionen Menschen in Deutschland Versicherungsleistungen beziehen werden. Durch die Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten würden weitere 500.000 Menschen hinzukommen. Derzeit gibt es 2,7 Millionen Pflegebedürftige.

Mit der Reform verbunden sind erhebliche Beitragserhöhungen in der Pflegeversicherung von derzeit 2,05 Prozent auf 2,55 Prozent im Jahr 2017.5 Milliarden Euro extra werden so jedes Jahr in die Pflege fließen – rund ein Fünftel des bisherigen Budgets. Gröhes Gesetz ist damit die umfassendste Modernisierung seit Einführung der Pflegeversicherung vor 20 Jahren. Drei Bundesgesundheitsminister – Ulla Schmidt (SPD), Philipp Rösler und Daniel Bahr (beide FDP) – waren zuvor am neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gescheitert.

„Niemand muss sich Sorgen machen“, versprach Gröhe. Viele Menschen würden durch die Umstellung auf das neue System besser gestellt, aber keiner schlechter. Die bisherigen drei Pflegestufen sollen auf fünf Pflegegrade erweitert werden. Wer wie viel Geld erhält, wird sich künftig vor allem danach richten, wie stark die Selbstständigkeit des Menschen eingeschränkt ist. Bisher war der Zeitaufwand das entscheidende Kriterium für die jeweilige Eingruppierung.

Allein das neue Verfahren zur Begutachtung wird einmalig 4,4 Milliarden Euro kosten. Weitere 800 Millionen Euro kostet das Versprechen von Union und SPD, dass keiner der jetzigen Pflegebedürftigen künftig weniger erhält – selbst dann nicht, wenn er durch die neue Begutachtung eigentlich heruntergestuft würde. Dieses Geld soll aus den Rücklagen der Pflegeversicherung kommen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts werden mehr als zwei Drittel (71 Prozent) aller Pflegebedürftigen heute zu Hause versorgt, weswegen Gröhe auch die Angehörigen besser stellen will: Wer ein Familienmitglied pflegt und anschließend arbeitslos wird, soll künftig umfassend abgesichert sein. Auch soll die Pflege von Angehörigen bei den Beiträgen zur Rentenversicherung berücksichtigt werden.